Kommentar von Alfred Hackensberger: Für das Chaos gibt es noch genug Gewehre

Nr. 40 –

Nur wenige Menschen haben in Libyen ihre Waffen abgegeben. Das Land braucht einen Mentalitätswechsel, bevor es Ruhe und Demokratie geben kann. Der hat gerade erst begonnen.

Hunderte standen in Benghasi und der Hauptstadt Tripolis Schlange, um ihre Waffen abzugeben: Kalaschnikows, Landminen, Granaten, sogar zwei Panzer. «Von den frühen Morgenstunden an kamen sie», sagt Oberst Omran al-Warfali zufrieden, «Männer und Jugendliche, Frauen und sogar Kinder haben Patronen abgegeben, die sie auf der Strasse gefunden hatten.» Als ob Patronen das Problem wären.

Aber es waren gerade mal 1500 Menschen, die in den vergangenen Tagen der libyschen Armee ihre Waffen übergaben. Die Regierung schätzt, dass noch rund 200 000  Menschen bewaffnet sind und dies bis auf die Zähne: mit schwerem Kriegsgerät bis hin zu Hunderten von Panzern, Mörsern, sogar Luftabwehrraketen. Im Westen wird befürchtet, dass Letztere in die Hände von Terroristen fallen könnten.

Die meisten dieser Waffen sind nicht im Besitz von Privatpersonen; sie liegen in den Lagern der über 200 Milizen. Die waren während der Revolution willkommen, werden aber jetzt von der Bevölkerung mehr und mehr abgelehnt. «Sie machen, was sie wollen», sagt Abdelaziz Wanis, ein Anwalt aus Tripolis. «Sie richten Checkpoints ein, verhaften willkürlich und knöpfen einem auch mal das Geld ab. Ganz abgesehen von den Schiessereien, die es immer wieder zwischen ihnen gibt.»

Der Unmut gegen die Milizen hat sich seit dem Sturz Muammar al-Gaddafis im Oktober 2011 angestaut. Mit dem Angriff auf das US-Konsulat in Benghasi, bei dem der Botschafter und drei Angestellte getötet wurden, war das Fass übergelaufen. Tausende stürmten die Stützpunkte von vier Milizen, darunter die Basis von Ansar al-Scharia, einer fundamental-islamischen Gruppe, die Kontakte zu al-Kaida haben soll und als Urheberin des Angriffs auf das US-Konsulat gilt.

Damit sind diese Milizen noch lange nicht verschwunden. Sie haben nur zusammengepackt und sich für eine Weile zurückgezogen. Andere haben die Tumulte genutzt und Waffen gestohlen, die von flüchtenden Milizen in aller Eile zurückgelassen wurden. Ismail Salabi, Kommandant der mächtigen islamistischen Rafallah-al-Sahati-Miliz, erklärte, dass dabei rund 2000 halbautomatische Waffen mit Munition, aber auch eine ganze Reihe von Luftabwehrraketen aus ihrem Bestand verschwunden seien.

Rafallah al-Sahati und zwei weitere verjagte Milizen sind mit der Regierung verbündet. Sie treten im Namen des neuen Staates auf, was aber nicht heisst, dass sie allen Befehlen aus Tripolis gehorchen. Das ist die Krux: Die Milizen sind wie kleine Stadtstaaten im Staat. Sie grenzen sich entlang religiöser, ethnischer, tribaler und lokaler Linien voneinander ab. Die Zugehörigkeit zur einen oder zur anderen Gruppe bestimmt über Freundschaft und Feindschaft.

So hat die Hafenstadt Misrata traditionell ein gespanntes Verhältnis zur Wüstenstadt Bani Walid, das sich durch den Fall Gaddafis noch verschlechtert hat. Bani Walid war eine der letzten Städte, die zum Diktator hielt, und gilt noch immer als Bastion seiner AnhängerInnen. Ständig gibt es Reibereien mit Misrata, wo die Leichen von Gaddafi und dessen Sohn ausgestellt worden waren. Man wartet geradezu darauf, dass diese Rivalität in einen bewaffneten Konflikt ausartet.

Die BewohnerInnen der arabischen Stadt Zintan, die Gaddafi-Sohn Seif al-Islam nicht an die Zentralregierung in Tripolis ausliefert, können die BerberInnen in den nahen Nafusabergen nicht ausstehen. Für AraberInnen wie BerberInnen gibt es Gebiete, in denen Rechtsfreiheit herrscht und sie Gefahr laufen, von der jeweils anderen Gruppe gekidnappt oder erschossen zu werden. Zugleich grenzen sich die Zintanis von den zahlreichen radikal-islamistischen Gruppen ab. Dazu gehören die Milizen von Abdelkarim Belhadsch, der in Afghanistan und im Irak Seite an Seite mit den Taliban und al-Kaida gekämpft hat.

Wer würde in solch verworrener Lage schon seine Waffen abgeben? «Vorerst behalten wir sie», sagte der Militärkommandant von Zintan. «Sie bleiben in unserer Stadt, in unseren Lagerhäusern.» Zur Regierung unterhalten solche bewaffneten Verbände ein pragmatisches Verhältnis. Sie versuchen, ihre Leute in wichtige Positionen zu bringen, und warten erst einmal ab. Eine komplette Übergabe der Macht an die neue Regierung ist für sie undenkbar. Die Verhältnisse in Libyen bleiben verworren, die Milizen machen das Land zu einem Pulverfass. An Versöhnung oder Wiedergutmachung – was zum Aufbau eines neuen Gemeinwesens beitragen würde – ist vorerst nicht zu denken. Noch immer werden ehemalige Getreue Gaddafis hingerichtet, meist von islamistischen Militanten.

Dass nun Teile der Bevölkerung gegen die Milizen auf die Strassen gingen, die Regierung deren Auflösung forderte und ein paar Hundert Menschen freiwillig ihre Waffen abgaben, ist immerhin ein Hoffnungszeichen. Genug aber ist das noch lange nicht. In der Regierung und im Sicherheitsapparat sitzen weiterhin Funktionäre, die die Interessen der Milizen vertreten und sich das, wie in Libyen üblich, von diesen gut bezahlen lassen. Der für Ruhe und Demokratie nötige Mentalitätswechsel hat eben erst begonnen. Es wird noch dauern, bis er von der Mehrheit nachvollzogen sein wird.