Luzern: Mullbau: Improvisieren an der Lindenstrasse
In Reussbühl, am Rand von Luzern, stellen ein paar KünstlerInnen ein feines Musikprogramm zusammen. Besonders gut sind die Verbindungen zur Chicago-Jazzszene.

Ein Freitagabend im Norden von Luzern: im «Mullbau» . Dort also, wo Luzern anders pulsiert als im Zentrum. In der Altstadt sind gut betuchte TouristInnen aus aller Welt fröhlich, bunt und oft etwas hektisch unterwegs – es müssen zu viele Sehenswürdigkeiten abgehakt werden.
Das KKL und der See, die Luxusrestaurants, Fast-Food-Tempel und Hotels liegen nur neun Busminuten und acht Haltestellen vom «Mullbau» entfernt. Eigentlich sind es aber Welten, die zwischen dem Hauptbahnhof und der Haltestelle «Fluhmühle» in Reussbühl liegen.
Reussbühl ist im Januar 2010 eingemeindet worden. Aber das heisst noch nicht, dass die Stadt bei den BewohnerInnen der «Lindenstrasse», wie diese Ecke liebevoll genannt wird, angekommen ist. Es gibt auch andere, die die Gegend abschätzig «Ghetto» nennen. Immerhin leben dort um die fünfzig Nationalitäten zusammen. Es ist ein Ort, wo ausländische Menschen nicht nur für eine oder zwei Nächte absteigen, sondern eine neue Heimat suchen.
Neben der Hauptstrasse verläuft die Bahnlinie nach Zug und Zürich. Hinter Gebäuden verborgen fliesst die Reuss, und noch weiter dahinter rauscht die Autobahn. Es ist dunkler als in der Innenstadt, der Mond schon beinahe voll. Der Silverstone-Shop bietet Töff- und Autohelme an, ein tamilischer Laden wirbt für günstige Telefonkarten, freie Flächen werden als Parkfelder genutzt. Die umliegenden Wohnblöcke, darunter ein dreizehngeschossiges Hochhaus, sind gesichtslos und etwas heruntergekommen – wie viele, die in den sechziger und siebziger Jahren gebaut wurden. Es sind kaum Leute unterwegs.
Zwischen «Grand Café» und «Gleis 13»
Eine schmale Treppe neben dem «Grand Café» führt zum «Mullbau» hinunter, links liegt die Rückseite der Trendbar Gleis 13. Im gedrungenen roten Backsteingebäude, einer ehemaligen Kaffeerösterei, haben die MusikerInnen der Gruppe Nacktmull (Isa Wiss, Hans-Peter Pfammatter, Markus Lauterburg, Marc Unternährer), die Künstlerin Catherine Huth und der Grafiker Mondo Messmer vor vier Jahren einige Räume angemietet, um «(überwiegend) frei improvisierte Musik zu präsentieren».
Das tun sie auch heute Abend. Vom offenen Vorplatz aus gelangt man direkt in den einfachen Raum. Eine kleine Bar in der Ecke, rund zwanzig Stühle und ein Sofa stehen bereit. Keyboards, Schlagzeug und jede Menge elektronische Geräte sind im Halbkreis aufgebaut, dahinter Lautsprecher und Verstärker. Drei Scheinwerfer sind an die Decke geschraubt, und der Bühnenhintergrund wurde während des letzten Kinderkonzerts gemalt.
Heute spielen der Trompeter Manuel Mengis, der Gitarrist Manuel Troller und der Schlagzeuger Lionel Friedli. Mit Pfammatter an den Keyboards ist auch einer der «Mullbau»-Gründer dabei. Der Eintritt liegt bei moderaten fünfzehn Franken, und das Bier gibts schon für drei. Der «Mullbau» hat sich gefüllt, die Sitzplätze sind alle besetzt, und die spät Gekommenen drängen sich an der Rückwand.
Die vier finden schnell zusammen, spielen druckvolle Musik, wechseln zwischendurch von ihren Instrumenten zur Elektronik, speisen Loops ein und verfremden ihre Klänge. Friedli sorgt an den Drums für einen schweisstreibenden Puls mit Ecken und Kanten. Enthusiastischer Applaus brandet auf. In der Pause stehen die gegen fünfzig BesucherInnen plaudernd in lockeren Gruppen draussen, rauchen, trinken Bier oder Wein.
Es sei altersmässig gut durchmischt, meint Marc Unternährer. Neben dem Stammpublikum seien einige befreundete MusikerInnen und Kunstschaffende da und erstaunlich viele von der Jazzschule.
Die «Sister Cities» Luzern und Chicago
2007 wurde in Luzern das Kulturzentrum Boa, das unterschiedlichsten Initiativen Raum bot, wegen Lärmproblemen geschlossen, die Bauten übernahm die Post. Die neuen NachbarInnen ärgern sich nun über die frühmorgens mit ihren Mopeds losfahrenden PöstlerInnen. Die «Mullbau»-Geschichte beginnt im Januar 2008 aus dieser Notlage heraus. Auf dem Viscose-Areal in Emmenbrücke finden die «Mullbau»-GründerInnen einen ersten Raum, müssen nach neun Monaten raus, weil das Areal verkauft wird. Bereits im November eröffnen sie das neue Lokal an der Lindenstrasse in Reussbühl.
Die «Mullbau»-InitiantInnen teilen sich die 600 Franken Miete und sorgen für die Programmierung. Dabei können sie als MusikerInnen auf die eigenen Netzwerke zurückgreifen. Besonders mit Chicago, wo der Verein Städtepartnerschaft Luzern–Chicago ein Atelier unterhält, sind sie eng verbunden. 2010 stand die «Mullbau»-Gruppe The Luzern-Chicago Connection auf der Bühne des Jazzfestivals Willisau. Der Livemitschnitt ist soeben auf CD erschienen. Neben Pfammatter, Wiss und Unternährer sind der Posaunist Jeb Bishop, der Bassist Jason Roebke und der Schlagzeuger Frank Rosaly dabei – allesamt Grössen der Chicago-Szene.
Inzwischen organisiert die Kerngruppe im «Mullbau» gegen 45 Konzerte pro Jahr. Die Liste der MusikerInnen, die schon im «Mullbau» gespielt hatten, beeindruckt: Vera Kappeler, Joy Frempong, Co Streiff, Peter Brötzmann, Pierre Favre, um nur einige zu nennen. Die Sängerin Isa Wiss hat die Kinderkonzerte lanciert, die monatlich stattfinden und auch von Kindern und Eltern der «Lindenstrasse» geschätzt werden. Da drängen sich im «Mullbau» schon mal bis zu siebzig Personen.
Es spricht sich schnell herum, wenn ein Club so engagiert und liebevoll geführt wird. Die Anfragen häufen sich, auf der Website ist zu lesen: «Bitte nur Anfragen von frei improvisierten Projekten.» So eng ist das Programm aber nicht definiert, das zeigt ein Blick auf vergangene und zukünftige Konzerte.
Im Herbst 2011 wurden die «Mullbau»-InitiantInnen mit einem Werkbeitrag von 15 000 Franken durch Stadt und Kanton Luzern geehrt, und dieses Jahr erhalten sie von den gleichen Stellen erstmals Unterstützung. Sie müssen die Miete nicht mehr selbst tragen, und die MusikerInnen, die meistens privat untergebracht werden, erhalten nun eine bescheidene Gage.
Im «Grand Café» sitzen die Leute noch draussen, Technosound hallt durch die laue Nacht. An der Bushaltestelle Fluhmühle erwarten einige Jugendliche die Nummer 2, die sie ins Zentrum bringt. Der Bus ist mit einem bunten Nationenmix gut gefüllt. Beim Partyclub Opera am Pilatusplatz ist auf grossen Bannern zu lesen: «Nachtruhe respektieren, Nachbarn schlafen». Im «Mullbau» gab es noch nie Lärmklagen der AnwohnerInnen.
Kurz vor dem Bahnhof wird über Lautsprecher eine Billettkontrolle angekündet. Ein Grossaufgebot erwartet die Passagiere, auch die Aussteigenden werden kontrolliert – einige Jugendliche bleiben im feinmaschigen Netz hängen. Diese Linie werde häufiger kontrolliert als andere, berichtet einer von ihnen. Freitagnacht in Luzern.