Werkstattbesuch: «Wenn ich das, was ich denke, höre, dann funktionierts»

Nr. 23 –

Wundersame Klangtinkturen entstehen im Tonstudio des Musikers Valentin Kessler. Es liegt auf dem Heinzenberg über Thusis und dient dem Tüftler als Klanglabor für seine Erkundungen zwischen Volksmusik und Jazz.

«Ich habe eine genaue Vorstellung von dem, was ich will»: Kapitän Valentin Kessler an der Reling auf dem Heinzenberg oberhalb von Thusis.

Da lehnt sich einer in der blauen Überhose an die Reling. Über dem Bauch hängt das Akkordeon. Jetzt könnte die Piratenfahne gehisst werden und das Schiff in See stechen. Aber dieser Bug ragt über Thusis aus dem Heinzenberg. Auf der Brücke des Kapitäns ist kein Steuer zu finden, sondern ein Schlagzeug, ein Klavier, eine Bass- und auch eine E-Gitarre. Gleich dahinter liegt der Maschinenraum: das Aufnahmestudio von Valentin Kessler, der dieses Jahr seinen 50. Geburtstag feierte.

Hier traf Kessler auf die Musiker seiner neusten Formation, der Kapelle Kessler. Es sind allesamt bekannte Köpfe aus der einheimischen Jazzszene. Der Gitarrist und Komponist Franz Hellmüller ist dabei, der Trompeter Manuel Mengis, der Bassist Luca Sisera und Tobias Schramm, der Schlagzeuger.

Vor einer Stunde – oder sind es nun schon zwei oder drei? – sind wir hier an Bord gegangen. Kessler, der Akkordeonist, winkte uns verschmitzt vom Balkon her zu. Hier hoch über dem Tal, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen und die Hirsche im Herbst den Kohl aus dem Garten fressen, wirken Valentin Kessler und seine Familie: Ursina Kipfmüller, seine Partnerin, die der Musiker als «seinen Förderpreis» bezeichnet, denn dank ihr habe er immer Musik machen können, Valentina, die Tochter mit der voluminösen Stimme, die lacht, wenn sie den konzentrierten Vater beim Musizieren betrachtet, Hans und Luzi, die beiden Söhne, mit denen Valentin in einer Band spielt.

Der Bub am Beizenpiano

Die Holzlatten und die Lärmisolation im Übungsraum hat der Musiker mit seiner Partnerin zurechtgesägt und eingebaut. «Alles, was ich so gut und in derselben Zeit wie ein Fachmann machen kann, mache ich selbst», sagt er. Auch das Haus, den Übungsraum und das Aufnahmestudio in der anliegenden Garage hat Kessler selbst umgebaut.

Aber die Hauptsache hier oben, um die sich alles dreht: Das ist die Musik. Während Kessler vorne im Garten sitzt und orgelt, bleibt im Hintergrund auf dem Feldweg vor der Hecke eine Mutter mit Kinderwagen stehen, die hier hochspaziert ist. Valentin spielt. Improvisiert, reitet Wellen. Lässt sie aufschäumen und brechen. «Musik machen und letztlich auch das Leben ist ein Vorgang des Zuhörens», sagt Kessler. Musik funktioniert für ihn dann, wenn er sich selbst und dem, was passiert, zuhören kann. «Wenn ich das, was ich denke, höre.» Diese raren Momente habe er bisher meistens auf Hochzeiten und an Geburtstagen erlebt. Musik als Aktion auf einem Energiebogen. Musik als Erzeugen von Spannung und Entspannung, als Energie, die fliesst. «Ich habe eine genaue Vorstellung von dem, was ich will», sagt er.

Als kleiner Bub setzte er sich in der Beiz seiner Eltern ans Klavier. Das «Schweizertor» in Schuders oberhalb von Schiers im Prättigau war ein bekannter Treffpunkt der Volksmusikszene. Valentin wollte auch mitspielen. Man zeigte ihm den C-Dur-Akkord. Die weiteren suchte er sich selbst heraus. Die Musik überlebte seine Adoleszenz. «Wohl weil immer alle sagten, ich solle mit dem Mist doch aufhören», sagt er.

Gewiss stand da in der Beiz auch eine Jukebox. Aber wenn die mal lief, wurden Schlager gewünscht. Rock und Pop der siebziger Jahre zogen an Kessler vorbei, ohne nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. «Natürlich hörte ich mir auch Pink Floyd an. Und mit den Jungs aus dem Tal probierten wir auch einiges aus. Aber ich habe Volksmusik extrem gerne», sagt er. Irgendwann aber wurde ihm diese Szene dann doch zu eng.

Anfang der achtziger Jahre, eben zwanzig Jahre alt, ging er als Kabelträger mit dem Vienna Art Orchestra, der von Matthias Rüegg geleiteten Jazzbigband, auf Tournee. Das war für den jungen Volksmusiker – was die Hörgewohnheiten betraf – eine 180-Grad-Wende. Als kompletter Grünschnabel kam der gelernte Elektroniker zu dieser Formation. «Irgendwann stand ich als Erster auf und ging als Letzter zu Bett. Wir hatten bis zu 26 Konzerte in einem Monat. Tourten mit zwanzig Leuten in einem Bus durch ganz Europa.» Kessler nahm Klavierunterricht bei Uli Scherrer, dem Pianisten des Vienna Art Orchestra, und studierte auch ein paar Semester an der Jazzschule in St. Gallen.

Dann begann er als Theatermusiker zu arbeiten. Und weil öfters das Akkordeon statt das Piano gefragt war, hängte er sich die Orgel um. Die Zeit mit Jellyfish Kiss und andern Schweizer Bands brach an. «Ich bin eher der Typ, der hinhören und mitspielen kann», sagt er von sich. Ganz wie es sich für einen Ländlerfreund gehört. Ein halbes Musikerleben lang war er Sideman in diversen Formationen.

Musik im Grenzbereich

Vor über zwei Jahren begann in Valentin Kessler eine neue Idee zu keimen. Mit dem Jazzbassisten Luca Sisera wollte er in den Grenzbereich zwischen Volksmusik und Jazz eintauchen. Hellmüller, Mengis und Schramm stiessen dazu. Kessler brachte das Grundmaterial aus der Volksmusik mit, die andern drehten es durch den Jazzwolf, wie Sisera den Prozess beschreibt.

«Sie waren die Kraft, die alles zerpflückte», sagt Kessler. Die Wahl seiner Mitmusiker war für ihn entscheidend. «Ich muss mich reiben können», sagt er. Franz, Luca, Manuel und Tobias sind für ihn die «Hauptkomposition». Ende Juni stehen für dieses Gegenstromprojekt die Aufnahmen für eine CD bei Radio DRS 2 an.

Kessler liess bei den Proben für diese Aufnahmen alles offen. Hellmüller bearbeitete in einem ersten Schritt Kesslers Grundmaterial. Was dann folgte, war ungewohnt anstrengend für die fünf Musiker. Hingehen und Arrangements abspielen war nicht gefragt. «Vieles war unklar und amorph», sagt Mengis. «Wir sind komplett unterschiedliche Charaktere. Der Musik gegenüber war ich extrem skeptisch», ergänzt Schramm. Ein kollektives Suchen setzte ein. Mengis ging es darum, das Geerdete der Volksmusik mitzunehmen und zu reduzieren, den Kern herauszuschälen und einen Bandsound zu finden. Denn: «Sobald man den hat, kann man alles spielen.»

«Es war eine sehr intensive Arbeit, aber wir haben einander immer reinen Wein eingeschenkt», so Sisera. Hellmüller präzisiert: «Wir sind ein Konglomerat von Musikern mit einer ähnlichen Grundphilosophie. Aber jeder hat seine eigene Zugkraft. Es ging darum, Grenzen auszuloten, zu überschreiten und gewisse Dinge wieder zu verwerfen. Was hier entstanden ist, ist Crossover, radikal und konsequent umgesetzt.»

Aber Kessler, der Macher, lotet nicht nur musikalisch, sondern auch am Instrument die Grenzen aus. Er betreibt Akkordeon-Grundlagenforschung. Seine beiden Jungs machen Hip-Hop, und damit er da mit seinem Instrument mithalten kann, möchte er es frisieren. Wieso sollte der Ton eines Akkordeons nicht elektromechanisch abgenommen und elektronisch verstärkt werden können? Man merkt, der Mann setzt sich schon seit längerem intensiv mit der Materie auseinander und meint es ernst. «Die E-Gitarre und das E-Piano gibt es schon», sagt Kessler. Wieso also nicht eine Stromorgel bauen auf dem Heinzenberg?

Mit dieser Reportage setzen wir die WOZ-Serie «Werkstatt- und Atelierbesuche» fort. In loser Folge werden Künstlerinnen, Handwerker, Tüftlerinnen, Erfinder, Bastlerinnen und Büezer an ihrem Arbeitsplatz porträtiert. Es geht dabei ums Entdecken von Menschen, von Handwerken, von Arbeitsweisen.