Prostituierte aus Osteuropa als Romanfiguren: Böses Erwachen im Westen
Julya Rabinowich und Sofi Oksanen schildern in ihren Romanen das Schicksal von Frauen aus dem Ostblock, die als Sexarbeiterinnen im Westen landen – oder für solche gehalten werden.
Diana hat eine Familie zu ernähren: Irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion wächst ihr behinderter Sohn bei ihrer Mutter und ihrer Schwester auf. Sie selbst lebt ohne Aufenthaltserlaubnis im Westen. Einst hatte sie Theaterwissenschaft studiert und wollte Regisseurin werden. Aber irgendwann begann sie, die finanziellen Engpässe mit Gelegenheitsprostitution zu überbrücken. Als Illegale im Westen blieb ihr dann keine andere Möglichkeit mehr, als vollends in der Prostitution zu landen.
Mit Träumen und Gefühlen
Diana, Hauptfigur des Romans «Die Erdfresserin» von Julya Rabinowich, ist eine von wenigen Prostituierten aus Osteuropa, die nicht nur als klischeehafte Nebenrolle in einem Roman auftauchen, sondern als literarisches Subjekt mit einer Vergangenheit, mit Träumen und Gefühlen. Und mit inneren Verstrickungen: Sie kann durchaus brutal sein, wenn sie etwas durchsetzen will, kämpft mit Ellbogen und Tricks um ihr Überleben – und bricht dennoch eines Tages zusammen, wird buchstäblich zur «Erdfresserin».
Die Fähigkeit, den Weg einer selbstbewussten jungen Frau zu beschreiben, die durch ihre Entscheidung für die «Sexarbeit» langsam, aber sicher den Boden unter den Füssen verliert, verdankt die österreichische Autorin auch ihrer Tätigkeit als Dolmetscherin in einer therapeutischen Einrichtung, in der sie vielen «Dianas» zugehört hat. Sie weiss, wie gebildet manche Frauen sind, die verstört, verhärtet und verzweifelt dort landen – und wie schwer es ist, ihnen zu helfen. Im Roman beginnt Diana zwar Vertrauen zu fassen, sie öffnet sich dem Therapeuten; dann aber muss sie erfahren, dass es für sie kein Bleiberecht gibt, weil sie nicht aus einem Kriegsgebiet kommt – und sie ist noch nicht einmal vergewaltigt worden, wie eine Sozialarbeiterin fast bedauernd feststellt.
Frauen aus Osteuropa sind beliebt als Putz- oder Ehefrauen – und gesucht als Sexarbeiterinnen im Frauenhandel. Wie aber lebt eine Osteuropäerin im Westen mit diesem Image? Darüber gibt nun ein Buch von Sofi Oksanen Auskunft. Als sie vor zwei Jahren mit ihrem Roman «Fegefeuer» Furore machte, in dem sie unter anderm beschrieb, wie junge Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion in die Zwangsprostitution gelockt werden, erfuhr man von der Autorin nur, dass sie 1977 als Tochter eines finnischen Vaters und einer estnischen Mutter geboren worden war. Genaueres zu Hinter- und Abgründen ihres Werdegangs lässt sich nun in ihrem Erstling «Stalins Kühe» nachlesen, der jetzt auf Deutsch vorliegt.
«Stalins Kühe» seien eine spezielle sozialistische Rasse, in Wahrheit aber Ziegen, lautet ein kleiner antisowjetischer Witz. Im Lauf der Lektüre drängt sich eine andere Bedeutung auf: Es könnten damit auch die russischen Frauen gemeint sein, die finnischen Männern das Leben versüssen.
Ein «estnisches Flittchen»
Annas Vater arbeitet oft in Russland, und es ist kein Geheimnis, dass auch er dort seine Geliebten hat. Annas Mutter Katariina aber schweigt verbittert. Als Estin ist sie für die finnische Verwandtschaft nicht viel besser als eine «Russenhure»: ein «estnisches Flittchen», das es geschafft hat, sich einen Mann aus dem Westen zu angeln. Dass sie Ingenieurin war und nur zögernd dem Werben des Finnen nachgegeben hat, glaubt ihr sowieso niemand. Und weil die estnische Herkunft eine einzige Peinlichkeit ist, bringt Katariina ihrer Tochter bei, diese zu verschweigen. Anna spricht akzentfrei finnisch, ist klug und schön, aber sie schleppt die verschwiegene «Schande» durch ihre Jugend und entwickelt extreme Essstörungen.
Der Roman hat die Wucht eines Erstlings. In vielen kurzen Kapiteln wird eine leidvolle Erfahrung geradezu herausgespuckt. Selten hat man in deutscher Sprache so genau gelesen, wie sich das West-Ost-Gefälle für Frauen aus dem Ostblock auswirkte, die sich im Kontakt zu Männern aus dem Westen einen Ausweg aus ihrer Situation in der osteuropäischen Heimat erhofften – und meist doch nur in ein Leben voll Verachtung und Ausgrenzung gerieten.
Julya Rabinowich: «Die Erdfresserin». Deuticke Verlag. Wien 2012. 240 Seiten. Fr. 25.90.
Sofi Oksanen: «Stalins Kühe». Kiepenheuer & Witsch. Köln 2012. 496 Seiten. Fr. 30.90.