Leseprobe: Im Raumschiff hinter dem Hühnerstall

Nr. 13 –

Das Buch «Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground» des langjährigen WOZ-Autors Christoph Wagner konzentriert sich auf die Jahre 1967 bis 1973. Die WOZ druckt einen Auszug.

In den sechziger Jahren war das Tonstudio ein besonderer Ort. Teuerste Technik gab ihm eine Aura des Exklusiven. Ins Studio gingen nur die Besten. Aufnahmen zu machen, war teuer, Studiozeit ein wertvolles Gut. Eine Platte einzuspielen, wurde von Musikern oft als Höhepunkt ihrer Karriere empfunden. Allerdings: Die Studios jener Zeit waren auch Kampfzonen. In ihnen wurde ein musikalischer Generationenkonflikt ausgetragen. Ältere Tonmeister und junge Rockmusiker standen sich unversöhnlich gegenüber. Unterschiedliche Vorstellungswelten prallten aufeinander.

Es gab die Kaste der studierten Toningenieure. Sie hatten die Prinzipien konventioneller Aufnahmeverfahren verinnerlicht. Die Herrscher über Bandmaschinen, Regler und Mischpulte vertraten mit dem professionellen Selbstbewusstsein ihres Standes und einer jahrelangen Ausbildung im Rücken mit Nachdruck ihren Standpunkt. Sie wussten, wie man eine Aufnahme «richtig» macht, und hatten nicht vor, sich von ein paar dahergelaufenen Greenhorns ins Handwerk pfuschen zu lassen.

Ihre Autorität wurde von jungen Rockmusikern infrage gestellt, die gänzlich andere Vorstellungen hegten, Auffassungen, die das Schulwissen infrage stellten. Infiziert von den neuen Sounds, die über den Kanal und den Atlantik kamen, folgten die Jungen der Vision einer neuen Rockmusik, die alle bisher gültigen Regeln über den Haufen warf. Ihr elektrischer Sound war nicht fein und gepflegt, sondern roh, aufgekratzt und ohrenbetäubend und sollte auch so auf Schallplatte eingefangen werden. Ein Horror für jeden gestandenen Tonmeister!

Kampf ums Klangbild

«Der Tonmeister war das Problem», seufzt der Zürcher Drummer Düde Dürst, wenn er sich an die späten sechziger Jahre erinnert. Damals sollte seine Band Krokodil für das Liberty-Label im Münchner Trixi-Studio ihr erstes Album aufnehmen. Die Session wurde zu einer Tortur, weil die Vorstellungen der Musiker und die des Toningenieurs Lichtjahre auseinanderlagen. «Unser Mundharmonikaspieler hatte eine Verzerrerbox und wollte natürlich das Mikrofon für seine Harmonika darüber laufen lassen. Damit erzeugte er diesen rauen, übersteuerten, dreckigen Sound. Den haben wir gewollt, den fanden wir toll! Das musste so sein! Wir wollten keinen sauberen Mundharmonikaklang, sondern diesen neuen verzerrten Sound. Da weigerte sich der Toningenieur schlicht, das aufzunehmen. ‹Das verzerrt›, hat er immer gesagt. ‹Das kann ich nicht aufnehmen.› Dieses Problem gab es permanent. Wollte man etwas anders machen, musste zuerst der Widerstand der Tonleute überwunden werden. Am Schluss musste unser Produzent Siggi Loch den Tontechnikern den Befehl geben, das jetzt so aufzunehmen. Die hätten das sonst nicht gemacht. Die haben sich geweigert. Es war ein Kampf ums Klangbild. Die waren gewohnt, nette Schlager aufzunehmen oder Orchester. Keine Kratzer, keine Verzerrung, keine Übersteuerung – alles sauber. Wir hatten andere Vorstellungen. Für das zweite Album sind wir dann in die Bavaria-Studios in München gegangen. Da war es ein bisschen besser, aber bei weitem nicht optimal.»

Die schlechten Erfahrungen von Krokodil waren kein Einzelfall. Die konventionellen Auffassungen der Toningenieure mussten als borniert bis überholt erscheinen, in einer Zeit, in der Alben wie «Electric Ladyland» von Jimi Hendrix, «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band» von den Beatles und Pink Floyds «Ummagumma» neue Massstäbe setzten und die Vorstellungen von den Möglichkeiten des Studios revolutionierten, ihm eine völlig neue kreative Rolle zuschrieben. Dazu kam, dass oft die Ausstattung der Studios in Deutschland nicht «State of the Art» war.

Früher hatte eine Band ihr Repertoire zuerst penibel einstudiert, dann in unzähligen Konzerten vor Publikum erprobt und verfeinert, bevor man schliesslich ins Studio ging, um die Stücke genau so aufzunehmen, wie man sie eingeübt hatte. Je genauer eine Band das schaffte, umso besser! Diese Reihenfolge kehrte sich jetzt um. Eine Handvoll Gruppen entwickelten ihre Musik im Studio und brachten sie erst danach auf die Bühne, wenn überhaupt, da der Studiosound live nicht immer zu reproduzieren war.

Das Tonstudio erfuhr einen Funktionswandel: Vom Ort purer Dokumentation avancierte es zu einem Werkzeug im kreativen Prozess – zum Klanglabor. Immer grössere Mischpulte, Mehrspurtechnik und neue Effektgeräte trugen ihren Teil zu diesem Quantensprung bei. «Damals ging man ins Studio, um die Musik zu konservieren. Jetzt wird sie dort geschaffen. Das Studio hat eine neue Funktion», schrieb Rolf-Ulrich Kaiser, der ein Gespür für die revolutionären Umwälzungen besass.

Echoeffekt im Öltank

In Stommeln bei Köln war der Gitarrist der Soulband The Candidates und autodidaktische Tontechniker Dieter Dierks (Jahrgang 1943) gerade dabei, mit zusammengetragenem und gebrauchtem Aufnahmeequipment und Verstärkern ein eigenes Studio einzurichten, das in der Folgezeit von vielen der aufkommenden Deutschrockformationen benutzt wurde. Das Dierks-Studio wurde zu einer Art Hausstudio von Rolf-Ulrich Kaiser, der zahlreiche Produktionen für sein vielfältiges Labelkonglomerat aus Ohr, Pilz und Kosmische Kuriere / Kosmische Musik dort realisierte und Gruppen wie Wallenstein, Tangerine Dream, Witthüser & Westrupp und Ash Ra Tempel von Dierks aufnehmen liess.

Dieter Dierks war nicht vom Fach, kein studierter Toningenieur, sondern Autodidakt. Vielleicht war es gerade diese Unbefangenheit und Neugierde des Unverbildeten, die ihn offen für die neuen Trends der Rockmusik machten und seine Fantasie anregten. Ursprünglich hatte Dierks als Schauspieler und Regieassistent am Kölner Theater gearbeitet, auch zwei Hörspiele für den WDR geschrieben, bei deren Produktion er die vielfältigen Möglichkeiten eines gut ausgestatteten Rundfunkstudios kennengelernt hatte. Daneben trat der Hobbygitarrist in Kölner Kneipen und Diskotheken auf und fing nun langsam an, bei «Mama unterm Dach», also auf dem Speicher im Häuschen seiner Mutter in Stommeln bei Köln, selber Musikaufnahmen zu machen. Dierks liess an einem Revox-Tonbandgerät einen zusätzlichen Tonkopf einbauen, um einen Nachhalleffekt zu bekommen. Eine türkische Plattenfirma war anfangs sein Hauptabnehmer. Dierks hatte Glück. Mit dem holländischen Sänger Juan Bastos nahm er den Hit «Loop di Love» auf, einen Song, den Dierks als Koautor geschrieben hatte und der 1971 wochenlang in den holländischen Charts stand. Das brachte einiges an Tantiemen ein, Geld, das Dierks in seine ambitionierten Studiopläne steckte.

Vom Dachgeschoss zog Dierks bald in die Scheune des Anwesens um, die nach und nach zum professionellen Tonstudio ausgebaut wurde. Dierks hatte ein klares Ziel vor Augen: Er wollte technologisch nicht nur auf der Höhe der Zeit sein, sondern an der Spitze stehen. Das erste Mischpult wurde selbst konstruiert und zusammengelötet.

Oft führte eine bestimmte Idee zur Erfindung eines besonderen Effektgeräts. Keine Mühen und kein Aufwand wurden gescheut, um die Palette der Klangfarben zu vergrössern. Ein Techniker arbeitete permanent an neuen Effektmaschinen, wie etwa dem speziellen «John-Lennon-Hall». Im Hof wurde ein zwanzig Meter langer Öltank eingegraben, der mithilfe diverser Trennwände und Mikrofone die tollsten Echoeffekte ermöglichte.

Wenn man über den schlammigen Innenhof ging, vorbei an Hühner- und Schweineställen, und dann durch die Eingangstür des Gebäudes trat, stand man schlagartig in einer anderen Welt, wo Lämpchen blinkten, Anzeigeapparaturen leuchteten und Regler ausschlugen. Der Kontrollraum glich dem Cockpit eines Raumschiffs, nur dass hier Tonaufnahmen gemacht wurden. Man befand sich im Nervenzentrum des Studio Dierks.

Wie das Studio wurde auch das Mischpult laufend vergrössert. Neue Teile, oft selbst fabriziert, kamen hinzu und wurden eingebaut. Die avancierteste Technologie war gerade gut genug. Dierks besass das erste 32-Spur-Mischpult in Deutschland, eine Eigenkonstruktion der Firma Telefunken/ABE aus Konstanz.

Für die jungen Rockmusiker war Dierks ein Bruder im Geiste. Er kannte deren Lage aus eigener Anschauung und bestand deshalb nicht stur auf Barzahlung, wie das andere Studios taten. In Stommeln konnte man – wie Christian Burchard von Embryo sagt – «auf Pump aufnehmen». Dierks geduldete sich so lange, bis Embryo die Einspielung «Embryo’s Rache» an United Artists verkauft hatte und dann die Studiokosten begleichen konnte. «Er hat uns vertraut», stellt Burchard fest.

Technik ausreizen

Musikalisch lag man auf derselben Wellenlänge. Dierks verstand intuitiv, auf welche Klänge die Gruppen aus waren. «Das dritte Album haben wir bei Dieter Dierks in Stommeln gemacht», erzählt Düde Dürst von der Gruppe Krokodil, den Streit mit den Studioingenieuren bei den früheren Produktionen waren sie satt. «Das waren Welten! Dierks war in unserem Alter, ein Progressiver. Als wir dort aufgenommen haben, ist das Studio noch eine Baustelle gewesen. Es war irrsinnig – mit Dierks konnte man alles ausprobieren. Der war für alles zu haben, selbst für die verrücktesten Sachen. Dort war es ein richtiger Genuss, Platten zu machen. Wir haben dann immer nur noch bei Dierks aufgenommen.

Christoph Wagner: Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground. Schott Verlag. Mainz 3013. 388 Seiten. 35 Franken. Zahlreiche Fotos. Das hier gekürzt wiedergegebene Kapitel «Klangzauberei» beschäftigt sich mit der «Entdeckung des Studios»