Enzyklopädie zeitgenössischer Irrtümer (27): Kriminalstatistik (Abbild der Realität)
Mit Diagrammen zunehmender Kriminalität lässt sich gut Angst schüren. Dabei sagt die Statistik mehr über die Schwerpunkte der Polizeiarbeit aus.
Es gibt Tage, da möchte ich einfach abtauchen. Wenn das Bundesamt für Statistik seine jährliche «polizeiliche Kriminalstatistik» veröffentlicht, hängt ein giftiger Nebel aus «Ängsten der Bevölkerung», aus Warnungen vor «kriminellen Ausländern» und «gefährlichen Jugendlichen» über dem Land. Schon die morgendlichen Zeitungen vergällen mir den Kaffee: Die Kriminalitätsraten seien wieder gestiegen. Die NZZ vermeldet «eine Zunahme von 9 Prozent oder 52 026 Straftaten». Titel in «Le Temps»: «Die Kriminalität verschont die Schweiz immer weniger». Die Stadt Lausanne schlage alle Rekorde. «In der Schweiz wird immer mehr geklaut», schreibt die «Neue Luzerner Zeitung» und macht vor allem Asylsuchende verantwortlich. Und im «Tagesanzeiger» informiert man uns zwar über einen Rückgang der Jugendkriminalität, aber der ewige professorale Experte Martin Killias verdirbt uns sogleich die kleine Freude: Das sei nur so, weil es weniger Jugendliche vom Balkan gebe und weil die verbliebenen sich ruhiger und integrierter verhielten.
Die jährliche «Polizeiliche Kriminalstatistik» (PKS) ist ein gefundenes Fressen für diejenigen, die mit Angst und Unsicherheit Politik machen wollen. Nachdem das Bundesamt für Polizei über lange Jahre hinweg nur eine «minimale» PKS herausgab, veröffentlicht das Bundesamt für Statistik seit 2010 jeweils einen dicken Jahresbericht, in dem sämtliche von der Polizei erfassten Delikte nach dem Strafgesetzbuch, dem Betäubungsmittelgesetz und dem Ausländergesetz aufgeschlüsselt werden – nach Kantonen und grossen Städten, nach Alter, Geschlecht und Aufenthaltsstatus der Beschuldigten, nach Häufigkeitszahlen (Zahl der Straftaten pro tausend EinwohnerInnen), Aufklärungsquoten und Steigerungen (beziehungsweise Abnahmen) gegenüber dem Vorjahr – das ganze vielfach in übersichtlichen Tortendiagrammen.
Die Statistik hat ihre Mängel: Sie zählt einzelne Straftaten und nicht – wie ihr deutsches Pendant – Fälle. Ein simpler Nachbarschaftsstreit taucht unter Umständen gleich viermal auf – als Körperverletzung, Beleidigung, Sachbeschädigung und Hinderung einer Amtshandlung – und schafft so künstliche «Mehrfachtäter». Ihre verheerende politische Wirkung verdankt die PKS einem systematischen Missverständnis: Sie zeigt nämlich nur die «registrierte Kriminalität». Die Polizei kann nur die Straftaten erfassen, die durch eine Verzeigung an sie herangetragen werden oder die sie durch ihre Kontrolltätigkeit selbst entdeckt. Die PKS-Zahlen sind damit zum einen abhängig von der variierenden Anzeigebereitschaft der Bevölkerung: Sicherheitskampagnen können schnell zu einer Häufung von Anzeigen führen.
Zum anderen verzichten die Geschädigten aber auch oft auf eine Anzeige, aus nachvollziehbaren Gründen, etwa wenn ihnen die TäterInnen nahestehen oder die Schadenssumme eines Diebstahls unter dem Selbstbehalt der Versicherung liegt. Zum anderen führen gezielte polizeiliche Kontrollen fast unweigerlich zu einem Anstieg von Drogendelikten und Straftaten nach dem Ausländergesetz.
Die systematische Verwechslung der registrierten mit der «wirklichen» Kriminalität führt zu absurden Blüten. Sie lässt nicht nur AusländerInnen krimineller dastehen als SchweizerInnen, was insbesondere die SVP freut. Sie zeichnet auch LausannerInnen als aggressive Bestien und InnerschweizerInnnen als harmlose Lämmchen.
Das alles ist offensichtlicher Blödsinn. Die PKS ist und bleibt eine blosse polizeiliche Erledigungsstatistik. Richtig gelesen, offenbart sie aber eine ganze Reihe spannender Informationen: zum Beispiel, dass Gewalt nach wie vor keine anonyme Angelegenheit ist und sich TäterInnen und Opfer meist zumindest flüchtig kennen, was die hohe Aufklärungsquote bei diesen Straftaten belegt; dass die schweizerische Gesellschaft immer weniger bereit ist, häusliche Gewalt hinzunehmen, was die wachsende Zahl der Anzeigen erklärt, oder dass die Polizei nach wie vor in erster Linie auf die KonsumentInnen illegaler Drogen losgeht und dabei immer noch vor allem KifferInnen im Auge hat.