Geburten: Kaiserschnitt, damit es für die Oper reicht
Ein Drittel aller Geburten in der Schweiz sind Kaiserschnitte, viele der Kosten wegen oder weil ÄrztInnen ihre Flieger nicht verpassen wollen. Bei der Geburtsabteilung in Riggisberg sieht es anders aus – nun droht ihr die Schliessung.
Erwartet hatten sie hundert. Es kamen fast tausend. Väter, Mütter, Kinderlose protestierten am 9. April gegen die Schliessung der Geburtshilfeabteilung im bernischen Riggisberg. Schon über zweitausend Personen hatten zu diesem Zeitpunkt die Facebook-Seite mit dem Titel «Die Geburtshilfe Riggisberg darf nicht geschlossen werden» mit «Gefällt mir» markiert. Mit einem dermassen grossen Widerstand hätte wohl niemand gerechnet, schon gar nicht die Betreiberin, Spital Netz Bern AG, die die Schliessung Ende März bekannt gab. «Oha, der CEO», sagt Verena Piguet, leitende Hebamme in Riggisberg, und nimmt das Handy ab. Ihr Handy klingelt derzeit häufig. Eben erkundigt sich der Chef der Spital Netz Bern AG über das Protestpicknick vor seinem Verwaltungsgebäude, zu dem Mütter, Väter und solche, die es noch werden wollen, aufgerufen haben.
Das kleine Landspital, umgeben von sanften Hügeln, auf denen sich alte Bauernhäuser ducken, ist weit über seine eigentliche Versorgungsregion hinaus bekannt und beliebt, denn: In kaum einem anderen Spital der Region können Frauen ihre Kinder unter medizinischer Betreuung auf so natürliche Art und Weise zur Welt bringen. «Schwangerschaften und Geburten», sagt Verena Piguet, «werden von der Medizin heute oft behandelt, als seien sie ein Krankheitsfall.» Nun soll die Geburtsabteilung Ende Juli dieses Jahres geschlossen werden. Fachkräftemangel und finanzielle Probleme sollen die Spital Netz AG Bern zu ihrem Entscheid bewogen haben, nicht nur zum Unmut der ganzen Geburtsabteilung, sondern auch der Klientinnen.
Kaiserschnitte bringen mehr Geld
Zum Beispiel Marina Flückiger. Die Begleitumstände ihrer Schwangerschaft hätten besser sein können. Der Fötus lag in Steisslage im Mutterbauch, überdies war er, gemessen am Durchschnitt, eher klein. Letzteres veranlasste Marina Flückigers Gynäkologin dazu, ihr zu unterstellen, dass sie rauche oder Drogen nehme. «Auch nachdem ich dies mehrmals verneint hatte, kam sie wieder mit dieser Frage», erzählt die 25-jährige Bernerin. Drei Wochen vor der Geburt beschieden ihr Oberärztin, Dienstärztin und Hebamme am Inselspital Bern: Kaiserschnitt, spätestens bis in einer Woche. Die Versorgung des Kindes über die Plazenta sei möglicherweise gefährdet.
Ein Drittel aller Kinder wird in der Schweiz per Kaiserschnitt entbunden. Hinzu kommen weitere medizinische Eingriffe wie Dammschnitte, die frühzeitige Einleitung der Geburt oder die sogenannte Periduralanästhesie zur Milderung der Schmerzen. Die Gründe dafür sind vielschichtig: «Eine natürliche Vaginalgeburt erfordert eine Eins-zu-eins-Betreuung durch die Hebamme», sagt Verena Piguet. Die Geburt dauert länger, benötigt darum mehr personelle Ressourcen – und kostet deshalb auch mehr. Trotzdem ist der Ansatz der vergüteten Fallpauschale tiefer als bei einem Kaiserschnitt. «Das ist doch paradox», sagt Piguet. Die Ärzte selbst verdienen an einem Kaiserschnitt mehr als an einer natürlichen Geburt. Doch nicht allein finanzielle Aspekte treiben die Kaiserschnittrate in die Höhe.
«In der heutigen Gesellschaft muss alles planbar sein», sagt Verena Piguet. Das gilt für MedizinerInnen wie auch für ihre Klientel. «In einer früheren Anstellung arbeitete ich unter einem Arzt, der jeden Dienstag im Opernchor sang. Wenn nicht absehbar war, dass das Kind bis sieben Uhr abends da sein würde, wurde die Geburt halt einfach eingeleitet.» Andere Hebammen erzählen von ÄrztInnen, die nach Absprache mit der Gebärenden einen Kaiserschnitt vornahmen, weil sie den Flug in die Ferien nicht verpassen wollten.
Aber auch die Besorgnis der Frauen in Bezug auf das eigene Körperbild («Ist der Sex nach einer natürlichen Geburt schlechter?») und das Bedürfnis nach absoluter Sicherheit haben zugenommen. «Die ständige Überwachung, die vielen Ultraschallbilder», all das schüre bei werdenden Müttern die Angst vor der eigenen Machtlosigkeit, sagt Verena Piguet. Die Verunsicherung führe dazu, dass schwangere Frauen Eingriffe billigen, die sie eigentlich nicht wollen und die auch nicht immer nötig wären. «Wenn der Arzt die Messwerte betrachtet, dann ist das eine Momentaufnahme – Hebammen, die die schwangere Frau permanent begleiten, können ein anderes Gefühl für die Situation entwickeln», sagt Verena Piguet. «In Riggisberg stehen Ärzte und Hebammen in ständigem gegenseitigem Austausch – deshalb kommt es hier nur selten vor, dass ich die Entscheidung des Arztes für falsch halte.»
«Wie ein leibhaftiges Ungeheuer» sei sie angeschaut worden, sagt Marina Flückiger, als sie den Eingriff ablehnte und den ÄrztInnen beschied, dass sie ihr Kind in Riggisberg zur Welt bringen werde. «Sie warfen mir vor, mich nicht um das Wohl des Kindes zu kümmern. Ich würde ohnehin wieder hier landen, hiess es.» Marina Flückiger sagt, sie habe intuitiv gewusst, dass ein Kaiserschnitt für sie nicht infrage komme und auch nicht nötig sei. In Riggisberg stellte man dann fest, dass ihre Plazenta einwandfrei arbeitete. Und als ihre Tochter Anfang März gesund zur Welt kam, war sie mit 2800 Gramm nicht einmal besonders klein. «Hätte ich mich am Inselspital einschüchtern lassen», sagt Flückiger, wäre ihre Tochter zu früh «auf die Welt gerissen» worden – «nur weil die Fachleute lieber Statistiken als individueller Betrachtung vertrauen». Die psychischen Risiken einer Kaiserschnittgeburt für Mutter und Kind fürchte sie viel mehr als allfällige Komplikationen während des Geburtsvorgangs, sagt Flückiger.
Therapie mit Kind
Werner Stadlmayr kam vor fünf Jahren als leitender Arzt nach Riggisberg, seit einem Jahr ist er leitender Chefarzt der Gynäkologie. Er berichtet von folgendem Erlebnis, kaum zwei Wochen ist es her: Eine Frau, die bereits ein Kind per Kaiserschnitt zur Welt gebracht hatte, wollte die Zwillinge, die sie nun erwartete, vaginal gebären. «Ich sagte ihr, dass es auch meines Erachtens zu gefährlich sei. Sie bat mich, wenigstens die Wehen abwarten zu dürfen.» Die Geburt wurde eingeleitet, die Wehen setzten ein – und dann sei die Frau für die Operation mental bereit gewesen. «Es hat einen Sinn, dass die Frau den Geburtsprozess erlebt», sagt Stadlmayr, «denn er stimmt sie und das Kind auf die Zeit nach der Geburt ein.»
Er sehe sich nicht als «Operateur», sondern als Geburtshelfer, sagt der Gynäkologe. «Ich persönlich beobachte einen Zusammenhang zwischen Kaiserschnitten und psychischen Erkrankungen von Müttern nach der Geburt», sagt Stadlmayr, der sich schon seit dem Studium für Psychosomatik interessiert und eine psychoanalytische Therapieausbildung absolviert hat. Es gebe keine medizinischen Studien, die seine Beobachtungen felsenfest untermauern würden, sagt der Arzt, «aber dass es in den letzten Jahren zu einem Anstieg von Depressionen bei Erwachsenen einerseits und zu mehr Fällen von ADHS bei Kindern andererseits kommt, sollte der Medizin doch auch einmal unter diesem Gesichtspunkt zu denken geben.»
Das Riggisberg-Team lancierte im letzten Jahr ein Projekt für junge Mütter, die von psychiatrischen Diensten oder Praxen überwiesen worden waren – Frauen mit Angstzuständen, Wochenbettdepressionen, Psychosen. «Mindestens fünfzehn Prozent aller Frauen», sagt Stadlmayr, «leiden an postnataler Depression. Und es gibt viele klinische Hinweise, dass die Suizidalität von Müttern sinkt, wenn sie zusammen mit ihrem Kind therapiert werden.» Suizid ist heute in der westlichen Welt die häufigste Todesursache von Müttern nach der Geburt – noch vor Blutungen, Schwangerschaftsvergiftung, Wochenbettinfektion oder Lungenembolie. Die Erfahrungen mit den psychisch kranken Patientinnen in Riggisberg waren gut, Rückfälle gab es nach der Entlassung keine. Doch die Behörden sträubten sich, Riggisberg auf die Liste der Einrichtungen für solche Behandlungen zu nehmen. Ein Krankenversicherer bot Werner Stadlmayr an, für eine sechswöchige stationäre Behandlung höchstens Kosten im Rahmen einer einzigen ambulanten Konsultation zu vergüten. «Dabei ist ein Bedarf definitiv ausgewiesen», sagt Stadlmayr, «wenn im Kanton jährlich 750 Fälle von postnataler Depression auftreten, wären jährlich fünfzehn Plätze in Riggisberg sicher nicht übertrieben.»
Verena Piguet ist überzeugt, dass ein solches Projekt sich auch finanziell ausgezahlt hätte – und eine Schliessung aus finanziellen Gründen hätte verhindert werden können. Denn in der Medienmitteilung zur Schliessung machte die Spital Netz Bern AG – nebst personellen Engpässen – zunächst hauptsächlich finanzielle Aspekte geltend: Unter dem ökonomischen Druck der neuen Spitalfinanzierung könne die 24-Stunden-Operationsbereitschaft in der defizitären Geburtsabteilung nicht aufrechterhalten werden. «Vor zwei Jahren gab man uns drei Jahre Zeit, um in der Rechnung auf eine schwarze Null zu kommen», so Verena Piguet. «Unser Defizit ist bereits von über drei Millionen auf eine Million geschrumpft. Es ist traurig, dass wir nun ein Jahr vor Ende der Frist einfach abgewürgt werden.»
Joseph Rohrer, Verwaltungsratspräsident der Spital Netz AG, dementiert gegenüber der WOZ: «Niemand hat je von einem finanziellen Problem geredet.» Vielmehr, macht Rohrer später geltend, liege die Schliessung in einem akuten Fachkräftemangel begründet. Zwei Stellen in der Anästhesie müssten neu besetzt werden. Verena Piguet glaubt, dass der Schliessungsentscheid der Spital Netz AG eine direkte Konsequenz der zweiten, im Februar eingegangenen Kündigung gewesen ist. Die Spital Netz habe jedoch gar nie eine Stelle ausgeschrieben, sagt Piguet. «Ich nenne es so: Sie hungern uns aus.» Joseph Rohrer dementiert: «Wir haben gesucht. Vielleicht nicht per Ausschreibung, aber gesucht haben wir.» Es sei schwierig, jemanden zu finden, der bereit sei, auf dem Land und unter derart belastenden Bedingungen zu arbeiten, schliesslich gebe es für die Kündigungen einen Grund.
Ein eigenes Betriebskonzept
«Der Verwaltungsrat verwechselt Ursache und Wirkung», sagt Werner Stadlmayr. Seit zehn Jahren werde von der Schliessung gesprochen. «Sie haben uns propagandistisch schrottreif geschossen.» Kein Arzt ziehe mit seiner Familie extra hierher, wenn er sich nicht sicher sein könne, ob in drei Jahren alles schon wieder vorbei sei. Aber falsche Sicherheiten könne er möglichen AspirantInnen ja auch nicht vorspiegeln, sagt der Chefarzt.
Die Belegschaft hat beim Verwaltungsrat der Spital Netz Bern AG die Rücknahme des Entscheids gefordert und ein Konzept erarbeitet, wie der Betrieb in Riggisberg weiter finanziert werden könnte. «Von der Putzfrau bis zum Arzt haben es alle mitgetragen», sagt Verena Piguet. Der Verwaltungsrat hält dennoch an der Schliessung fest. Das Konsultationsverfahren läuft. Allerdings, so sagt die Hebamme, agierten Gewerkschaft und ArbeitnehmerInnenverbände eher zurückhaltend. Diese machen geltend, dass das Projekt im spital- und finanzpolitischen Umfeld – dem kantonalen Sparpaket von 400 Millionen Franken – realistisch sein müsse. Bettina Dauwalder, Gewerkschaftssekretärin für Gesundheitsberufe des VPOD Region Bern, sagt: «Es liegt an der Politik, welche die Sparmassnahmen beschlossen hat, mit Vorstössen gegen die Schliessung zu intervenieren.»
In den Berner Medien war zu lesen, dass es durchaus auch bei komplizierten Voraussetzungen, etwa wenn das Kind in Steisslage liege, möglich sei, im Inselspital auf natürliche Weise zu gebären. «Ich habe während meiner zehnjährigen Tätigkeit am Inselspital nie eine Frau gesehen, die ein Steisslagenkind vaginal geboren hat», sagt Werner Stadlmayr, «und ich habe dort zumindest nie erlebt, dass man versucht hätte, die Frauen bei komplizierten Fällen auf natürliche Weise gebären zu lassen, aber vielleicht hat man ja seit Kurzem begonnen, das wieder ins normale Betreuungsprogramm aufzunehmen.»
Schweiz liegt an der Spitze
Die Kaiserschnittrate in der Schweiz ist mit 33 Prozent mehr als doppelt so hoch wie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlen. Von 1998 bis 2008 stieg sie um 10 Prozent und bleibt seither konstant. In Westeuropa hat nur Italien mit rund 38 Prozent eine höhere Kaiserschnittrate. Die Raten sind je nach Spital und Region sehr unterschiedlich, sie schwanken zwischen 14 und 57 Prozent. Bei privat- und halbprivat versicherten Frauen liegt die Rate im Schnitt rund 10 Prozent höher als bei allgemein versicherten.