Landspitäler im Kanton Bern: Mehr als ein «Puurechrieg»

Nr. 46 –

Im Kanton Bern kämpft eine Allianz aus SVP-VertreterInnen, Gewerkschaftern und Feministinnen für den Erhalt der Landspitäler. In der Diskussion um die Spitalstandortinitiative offenbaren sich Gräben: zwischen Stadt und Land – und zwischen den Gewerkschaften.

Wird das Spital in Langnau bald geschlossen? Eine Initiative will, dass die bestehenden öffentlichen Spitäler mindestens weitere acht Jahre offen bleiben.

Was ist eigentlich passiert, wenn ausgerechnet SVP-Mitglieder plötzlich für den Service public einstehen – und VPOD-GewerkschafterInnen sich umgehend davon distanzieren? Irgendetwas in diesem komplizierten Kanton scheint verkehrt. Doch eins nach dem anderen.

Dreizehn Spitäler sind seit 1999 im Kanton Bern bereits geschlossen worden. Vor allem die Landspitäler sind seit 2012 mit der neuen Spitalfinanzierung und der Gleichstellung von privaten mit öffentlichen Spitälern noch mehr unter Druck geraten: 2013 wurde die Geburtenabteilung im Spital Riggisberg aufgehoben; dasselbe Schicksal ereilte 2015 die Geburtenabteilung in Zweisimmen. Dort immerhin gibt es jetzt einen Lichtblick: Gerade erst hat die Genossenschaft Maternité Alpine einen Leistungsauftrag für ein Geburtshaus erhalten.

Doch das Schliessungsdomino droht weiterzugehen. «Jeder Standort ist gefährdet», verriet Annamaria Müller vom Berner Spitalamt unlängst im «Bund», der bei dieser Gelegenheit sieben von vierzehn öffentlichen Regionalspitälern als gefährdet einstufte: Saint-Imier, Moutier, Aarberg, Langnau, Zweisimmen, Frutigen und Münsingen. Als gesichert gelten die Hauptstandorte Bern, Biel, Burgdorf, Langenthal, Thun und Interlaken sowie das kleinere Spital Riggisberg.

Im Komitee der Spitalstandortinitiative, über die am 27. November abgestimmt wird, sitzen denn auch vor allem VertreterInnen vom Land, überwiegend SVP-Mitglieder. Unterstützt werden sie unter anderem von der Gewerkschaft Unia, vom feministischen Netzwerk Wide und vom kantonalen Hebammenverband. Frauen aus ganz unterschiedlichen Milieus haben sich hierfür zum Netzwerk «Frauen für eine bessere Spitalpolitik» zusammengetan.

Die Initiative will eine gute Grundversorgung im ganzen Kanton sicherstellen: Für mindestens acht Jahre sollen die vierzehn Spitäler erhalten bleiben, inklusive Notfallversorgungen rund um die Uhr sowie Innerer Medizin, Chirurgie und Gynäkologie/Geburtshilfe. Den InitiantInnen geht es auch um den «Erhalt und Ausbau der lokalen und regionalen Netzwerke zwischen Haus- und Spitalärzten». Betont wird zudem die Bedeutung der regionalen Standorte als Ausbildungsstätten für künftige HausärztInnen und Hebammen.

Alle grossen kantonalen Parteien sind gegen die Initiative; dafür sind einzig kleine Linksparteien (Partei der Arbeit, Grünalternative und Alternative Linke). Die Gräben verlaufen nicht zwischen den Parteien und Verbänden, sondern quer durch. Besonders ausgeprägt in der Gewerkschaftsbewegung: Der Gewerkschaftsbund sagt Ja (und mit ihm die Unia). Der VPOD (und mit ihm auch die Personalverbände der ÄrztInnen und der Pflegefachleute) sagt Nein.

Aus Sicht des VPOD ist die Initiative das falsche Rezept: Um heute ein Akutspital mit qualitativ hochwertiger, umfassender Grundversorgung anzubieten, brauche es das nötige Fachpersonal, das rund um die Uhr zur Verfügung stehe. Dazu bedürfe es attraktiver Arbeitsbedingungen, argumentiert der Verband: «Tatsache ist aber: Seit 2012 stagnieren die Löhne, verlässliche Arbeitszeiten sind oft ein Wunschtraum, Formen von Arbeit auf Abruf nehmen zu.» Das würde sich mit einer Annahme der Initiative nur noch verschlimmern.

Tatsächlich steht im Initiativtext nichts darüber, wie der langfristige Betrieb aller Spitäler finanziert werden und wo der Kanton die dazu notwendigen Millionen auftreiben soll. «Uns fehlt leider auch der Glaube, dass die bürgerliche Mehrheit im Kantonsparlament die nötigen Mittel spricht, um Mehrausgaben zu finanzieren», sagt Bettina Dauwalder vom VPOD Bern.

Der VPOD plädiert stattdessen für den Ausbau von «integrierten Formen der Grundversorgung» aus ambulanten Grundversorgungs- und Notfalldiensten mit angeschlossenen orthopädischen Chirurgien, Spitex, Physiotherapien und Geburtshäusern: «Für diese Weiterentwicklung soll der Kanton Geld ausgeben – und nicht, um teure Strukturen zu erhalten.» Eine Zementierung der Strukturen über acht Jahre sei kontraproduktiv: «Die neue Spitalfinanzierung setzt auf Wettbewerb und bringt einen enormen Kostendruck mit sich. Heute reichen die Einnahmen aus den Fallpauschalen und ambulanten Tarifen für kleinere, aber auch für die grossen Spitäler in der Regel nicht aus, um die Kosten zu decken.»

Auf Kosten der Frauen?

Simona Isler vom feministischen Netzwerk Wide sieht das anders: «Vom Abbau gesundheitlicher Dienstleistungen in verschiedenen Regionen des Kantons waren und sind vor allem Frauen betroffen: erstens weil damit ein Verlust von wichtigen Arbeitsplätzen von Frauen einhergeht. Zweitens weil der Abbau in der dezentralen Geburtshilfe zu lange Wege für Gebärende mit sich bringt. Und drittens weil der Abbau öffentlicher Dienstleistungen immer auch eine Verschiebung von bezahlter zu unbezahlter Carearbeit bedeutet.» Das alles sei schwerwiegend genug: «Es gilt daher, auf politischer statt auf betriebswirtschaftlicher Ebene zu definieren, welche Dienstleistungen wir für die gesamte Bevölkerung öffentlich zur Verfügung stellen wollen.» Die Initiative sei diesbezüglich eine Chance, die Frage aus den Büros der SpitalmanagerInnen in die Hände der Stimmbevölkerung zu verlegen: «Grundsätzlich geht es um die Frage, ob wir uns mit der von der neuen Spitalfinanzierung geschaffenen Situation einfach so abfinden – oder ob wir die Politik dazu aufrufen, bessere Lösungen zu finden, die diesen Kostendruck auffangen können oder sogar grundsätzlich umstrukturieren.»

Fallpauschalen führten dazu, dass dezentrale Strukturen geschwächt werden, sagt Isler: «Einfache Behandlungen oder Eingriffe sind dadurch weniger lukrativ als die Spitzen- und Apparatemedizin. So etwa ist eine normale Geburt für die Spitäler zu einem Verlustgeschäft geworden. Mittelgrosse Spitäler wie Thun oder Interlaken stehen enorm unter Druck, weil sie gewinnbringend arbeiten müssen. Sie orientieren sich in ihrer Angebotsplanung an der betriebswirtschaftlichen Rechnung und nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung.»

Zum Beispiel Langnau

Danielle Lemann führt seit über dreissig Jahren eine Hausarztpraxis in Langnau. Sie macht sich keine Illusionen: «Gut möglich, dass unser Spital das nächste Opfer sein wird. Wir haben schon x-mal gezittert: zum Beispiel 2004, als wir das Ärztenetzwerk Oberes Emmental gründeten und in Bern gegen die angedrohte Schliessung der stationären Chirurgie und den Abbau in der Inneren Medizin demonstrierten.»

Lemann, die lange für die SP im Grossen Rat sass, spricht von einem «Puurechrieg» zwischen Stadt und Land: «Einfach nur Spitäler schliessen ist keine Vision.» Auch von integrierten Formen der Grundversorgung, wie sie der VPOD favorisiert, hält Lemann wenig: «Wir Hausärzte brauchen die Rückendeckung der Spitäler. Heute ist ein Patient mit einer Blinddarmentzündung von meiner Praxis in fünf Minuten im Notfall. Nach einer Schliessung bräuchte er dafür mindestens dreissig Minuten.» Ein Spital ohne Notfallstation rund um die Uhr und ohne stationäre Abteilungen führe zudem zu einem unnötigen zusätzlichen Strassenverkehr. «Die Annahme der Initiative würde uns Zeit geben, darüber nachzudenken, was für ein Gesundheitswesen wir wollen. Andernfalls müssen wir uns fragen: Wollen wir die ländlichen Gegenden verurwaldisieren?»

Mit der Schliessung von Spitälern wandern nicht nur HausärztInnen ab. Auch viele weitere wohnortsnahe Arbeits- und Ausbildungsplätze rund um den Spitalbetrieb gehen dabei verloren. Und: Die Arbeitswege für berufstätige Mütter werden länger, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch schwieriger. Laut Corrado Pardini, Unia-Geschäftsleitungsmitglied und Präsident des Berner Gewerkschaftsbunds, sind durch die Spitalschliessungen in den letzten siebzehn Jahren mehr als 1500 Stellen verloren gegangen: «Das ist für viele Regionen ein massiver Aderlass – vor allem wenn man bedenkt, dass im gleichen Zeitraum auch der Bund, die SBB, Post und Swisscom ihr Engagement im ländlichen Raum zurückgeschraubt haben.»

Bettina Dauwalder vom VPOD dagegen weist darauf hin, dass bei den Spitalschliessungen seit den neunziger Jahren die meisten Stellen – gerade die qualifizierten Teilzeitstellen von Frauen – in den vor Ort weitergeführten Angeboten behalten oder in andere Spitäler, Heime oder zur Spitex verlegt worden seien: «Die Arbeit geht also nicht aus – sie ist aber zum Teil nicht mehr vor der Haustür. Zudem haben wir im Grossen Rat Mittel für flankierende Massnahmen bei Härtefällen erkämpft. Und seit 2000 haben wir dank des Gesamtarbeitsvertrags einen Sozialpan.»

Öffentliche Spitäler in Bern Karte: WOZ, Quelle: derbund.ch

Es gehe heute auch nicht darum, Spitäler zu schliessen und Arbeitsplätze abzubauen: «Der Kanton sollte vielmehr für innovative Weiterentwicklungen wie das Geburtshaus in Zweisimmen und den Ausbau des Rettungsdiensts Geld ausgeben – und dafür, dass auf dem Land die gleichen Lohn- und Arbeitsbedingungen wie in den Zentren angeboten werden können.» Zwar stünden in verschiedenen Regionen bereits angepasste Angebote bereit. Was aber vor allem noch fehle, seien Zwischenlösungen in der Versorgungskette und spezialisierte Angebote wie die Palliative Care oder mobile Equipen in der Psychiatrie. «Für all diese neuen Angebote und das entsprechende Personal müssen vom Kanton dringend die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt werden, weil sie nicht über Tarife und Fallpauschalen abgedeckt werden.»

Viel Arbeit für die Linke

Wie geht das überhaupt: eine nachhaltige Gesundheitspolitik in einem Kanton mit rechtsbürgerlichem Regime, das privatisiert, den Wettbewerb forciert und ein Sparpaket nach dem anderen schnürt? Diese Frage stellt sich auch bei der Spitalstandortinitiative, über die im Kanton Bern am 27. November abgestimmt wird.

Das Dilemma lautet: Wie lässt sich das Recht auf eine hochwertige Grundversorgung erfüllen, ohne dass die dabei Beschäftigten dafür mit schlechteren Arbeitsbedingungen zahlen müssen?

Dass sich am Kampf um den Erhalt der Landspitäler VertreterInnen jener Parteien beteiligen, die mit ihrer Politik die Grundversorgung infrage stellen, macht die Sache noch grotesker. Die Linke täte umso mehr gut daran, sich mit vereinten Kräften für einen nachhaltigen Service public auch in den ländlichen Regionen zu engagieren, statt sich gewerkschaftsintern zu kannibalisieren – in Regionen notabene, in denen die SVP und ihre Sparapostel einen grandiosen WählerInnenanteil haben.