Geburtshaus Zweisimmen: Gebären mit blauen Flecken

Nr. 23 –

Zentrumsferne Regionen der Schweiz müssen um ihre medizinische Grundversorgung fürchten. Exemplarisch zeigt sich das im Berner Oberland: Eine Spitalschliessung folgt der anderen – mit unangenehmen Folgen für werdende Mütter.

Fährt man entlang der Schienenstrasse der «Golden Pass Line», muss sich das Fahrzeug stets von neuem in die Kurve legen. Äcker, Felder und Kuhwiesen ziehen sich von der kurvigen Strasse am Talboden bis weit in die Hügel hinauf. Mischelle Werren mag die Gegend. Die 31-Jährige lebt seit neun Jahren in der kleinen, nahe dem Simmental gelegenen Gemeinde Rougemont. Hier geschehe alles etwas gemächlicher als anderswo, meint Werren. Ausser in den Wintermonaten, wenn das Tal seiner vielen Berggipfel wegen zum TouristInnenmagnet wird. Nur sei da das Problem mit den Distanzen.

Begonnen hat alles vergleichsweise harmlos im Oktober 2015: Werren verliert mitten in der Nacht Wasser. Ihre Fruchtblase ist angerissen. Sofort macht sie sich auf den Weg ins nahe gelegene Spital Zweisimmen. Dort stellt die Hebamme im Pikettdienst fest, dass der Muttermund bereits einige Zentimeter geöffnet ist – Werren muss schnellstmöglich in ein anderes Spital. Die Presswehen können nun jede Minute einsetzen. Das Problem: Das nächste Spital mit einer Geburtsstation befindet sich in Thun, eine gute Fahrstunde von Zweisimmen entfernt.

In der «Versorgungswüste»

Wäre Werrens Kind ein Jahr früher zur Welt gekommen, hätten sich eine Hebamme, eine Fachärztin und eine OP-Equipe der Geburtsabteilung in Zweisimmen um Mutter und Kind gekümmert. Doch im Frühling 2015 wurde diese geschlossen. Sie war die letzte in der ganzen Region. Schwangere sind seither gezwungen, bei der Geburt oder bei Komplikationen während der Schwangerschaft den Weg nach Thun, Frutigen oder ins waadtländische Aigle auf sich zu nehmen.

Das lang gezogene Simmental erstreckt sich von der Lenk im Süden bis an die Grenzen der Kantone Waadt und Freiburg im Westen und zum Talausgang in der Nähe von Spiez und Thun im Osten. In der Region leben rund 24 000 Menschen. Die kleinen Dörfer des Tals liegen in den unzähligen Strassenkurven, Dutzende von Kilometern zwischen ihnen. Eilt die Fahrt, wird wie im Fall von Mischelle Werren eine Ambulanz gerufen, im Notfall auch ein Helikopter, der die Frauen nach Thun oder ins Inselspital Bern fliegt.

Die Grundversorgung der Region sicherten einst diverse Regionalspitäler. Das Aus kam mit der neuen Spitalplanung. Im Juni 2012 schloss die Klinik in Erlenbach, im Herbst 2012 das Spital Saanen und Ende April 2015 schliesslich die Geburtsstation des Spitals Zweisimmen. «Die Region ist unterdessen eine einzige geburtshilfliche Versorgungswüste, die von Thun über Fribourg bis Lausanne reicht», konstatiert Marianne Haueter, Präsidentin der Sektion Bern des Schweizerischen Hebammenverbands.

Haueter, einst selber am Spital Zweisimmen als Hebamme tätig, hatte sich zusammen mit anderen SpitalkämpferInnen stark für die Erhaltung der Geburtshilfe in Zweisimmen eingesetzt. Der Widerstand der Bevölkerung gegen den Schliessungsentscheid war gross: Eine Petition mit 8700 Unterschriften wurde eingereicht, unzählige Briefe an den Regierungsrat geschickt. Die Schliessung der Geburtsstation empört Haueter: Den Frauen des Berner Oberlands werde mit der Schliessung der Abteilung die regionale geburtshilfliche Grundversorgung verweigert.

Für den Schliessungsentscheid verantwortlich ist nicht der Kanton, sondern ein Privatunternehmen. 2006 hat der Kanton Bern die Spitäler des Berner Oberlands privatisiert. Seither führt die Simmental Thun Saanenland AG (Spital STS) die Spitäler als privatrechtliche Aktiengesellschaft mit dem Kanton Bern als Alleinaktionär. Die Spital STS führt für den Schliessungsentscheid medizinisch-qualitative sowie finanzielle Gründe ins Feld: Die Fallzahlen seien zu klein, zwei bis drei Geburten pro Woche würden nicht rentieren. Ausserdem stelle sich aufgrund der tiefen Geburtenrate die Frage nach der kontinuierlichen Qualität der medizinischen Behandlung von Mutter und Kind.

Den Vorwurf der GegnerInnen, seit der Schliessung sei die Grundversorgung nicht mehr gewährleistet, weist die STS Thun klar von sich. Am Spitalstandort Zweisimmen würde die Grundversorgung mit Innerer Medizin, Chirurgie und Notfall gewährleistet, sagt Marie-Anne Perrot, Mediensprecherin der STS. Dies verlange das kantonal vorgegebene Basispaket. Darüber hinaus habe die Spital STS wegen der Schliessung der Geburtsabteilung eigens den sogenannten Geburtshilflichen Dienst mit einem 24-Stunden-Hebammen-Pikettdienst ins Leben gerufen. Was Perrot hingegen nicht bestreitet: Der Weg nach Thun wird durch den Pikettdienst nicht kürzer.

Mit Blaulicht durch die Kurven

Die Ambulanz fuhr Mischelle Werren und die Hebamme mit Blaulicht nach Thun. Die Hebamme war im ständigen Kontakt mit dem Spital Thun. Alles musste für die Geburt vorbereitet sein. Werren hatte mittlerweile starke Wehen. Die kurvige Fahrt setzte den beiden Frauen zu. Werren konnte aufgrund des fortgeschrittenen Geburtsvorgangs nicht mehr sitzen: «Bei jeder Kurve schlug es meine Beine von einer Seite auf die andere», erzählt Werren, während sie sich an die schnelle Fahrt erinnert. Auch die Hebamme trug von der Fahrt blaue Flecken davon.

Annamaria Müller, Vorsteherin des Spitalamts Bern, kann die Schliessung der Geburtsstation Zweisimmen nachvollziehen. Auch Müller betont: «Die Geburtshilfe gehört in Bern nicht zum Basispaket. Unter anderem deshalb, weil der Regierungsrat die Zürcher Leistungsgruppensystematik übernommen hat.» Der Leistungskatalog der Zürcher Gesundheitsdirektion gibt die Qualitätskriterien für die einzelnen Spitalbereiche vor und wurde auf Empfehlung der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) von den meisten Kantonen übernommen.

Der Zürcher Katalog ist nicht unumstritten. Im Entscheidungsgremium, bestehend aus der Zürcher Gesundheitsdirektion und hundert ExpertInnen, seien kaum RepräsentantInnen der Grundversorgung vertreten, meint Marianne Haueter vom Schweizerischen Hebammenverband. Die Bestimmung sei letztlich ein technokratischer Strukturbereinigungsentscheid und für Regionalspitäler nicht zweckmässig.

Nötig machte die Planung und Systematisierung der Leistungsgruppen die Einführung der Fallpauschalen Anfang 2012. Mit dem neuen Abgeltungssystem vergüten die Krankenkassen neu nicht mehr die effektive Leistung des Spitals, sondern eine durchschnittliche Pauschale pro Krankheitsfall, abhängig von Haupt- und Nebendiagnose oder allfälligen Risiken. So kostet heute eine «normale Geburt» rund 5700 Franken, unabhängig davon, wie Frau und Kind betreut werden, wie viele Medikamente benötigt werden und wann die Patientin anschliessend entlassen wird. Kaiserschnitte werden dabei höher vergütet als «normale» Geburten. Die Idee: mehr Transparenz, mehr Wettbewerb und entsprechend geringere Kosten. Haueter zweifelt an dem Modell: «Wir haben es mit einem überregulierten Gesundheitssystem zu tun. Es gibt einerseits unzählige Vorgaben, andererseits werden verschiedene individuelle Bedürfnisse über den gleichen Leisten geschlagen.»

Rentabilitätszwang

Das System der Fallpauschalen setzt die Spitalunternehmen ökonomisch stark unter Druck. Die Spitäler sowie die einzelnen Abteilungen müssen rentabel sein. Ist dies nicht gewährleistet, fährt das Unternehmen Verluste ein, die es in anderen Bereichen zu Einsparungen zwingen. ExpertInnen schätzen, dass es an einem Standort mindestens tausend Geburten pro Jahr braucht, um eine Geburtsabteilung wirtschaftlich und kostendeckend betreiben zu können. Die Geburtsstation in Zweisimmen ist dabei nicht die einzige in der Region, die dieses Kriterium nicht erfüllt. Auch die Berner Spitäler Interlaken, Frutigen, Münsingen und Burgdorf erreichen die kritische Grösse nicht. Da nur sehr wenige Spitalbereiche gewinnträchtig sind, müssen Spitäler gewisse Abteilungen schliessen oder aber weiter wachsen und sich mehr und mehr spezialisieren, um dem ökonomischen Druck standhalten zu können.

Das Nachsehen haben Frauen wie Mischelle Werren. Ihr Fall endete zwar gut: Nach der turbulenten Fahrt mit der Ambulanz brachte Werren im Spital Thun einen gesunden Sohn zur Welt. Sie ist dennoch besorgt: «Ich stelle mir die Frage, wie es beim nächsten Kind sein wird. Was ist, wenn die Strassen zugeschneit sind, wenn es zu Komplikationen kommt? Sollen wir bei der nächsten Schwangerschaft etwa drei Wochen vor der Geburt vor dem Spital in Thun campieren?»

Autonome Hebammen : Wie in der Nähe gebären?

Die BewohnerInnen der beiden Talschaften Simmental und Saanenland haben beschlossen, sich nun selbst zu helfen: Im Januar 2017 soll das Geburtshaus Maternité Alpine in Zweisimmen seine Türen öffnen und so die Grundversorgung für Frauen der Region zumindest partiell wieder gewährleisten.

Das im Juli 2015 lancierte Projekt ist genossenschaftlich organisiert. Dieses Prinzip ist für die InitiantInnen zentral: Selbstverwaltet, demokratisch und transparent soll das Projekt sein – anders als bei den von Kanton und Spitalunternehmung geregelten Spitalabteilungen.

Auch den Frauen soll mit der Gründung des Geburtshauses wieder mehr Autonomie zurückgegeben und der Zugang zu einer frauenzentrierten, wohnortnahen Gesundheitsgrundversorgung ermöglicht werden.

Wie sehr sich die Region das Geburtshaus wünscht, zeigt der enorme Rückhalt, den das Projekt erfährt: Acht von zehn Gemeinden unterstützen das Geburtshaus bisher sowie ein grosser Teil der Bevölkerung.

Das Problem der fehlenden Grundversorgung löst das Geburtshaus aber nicht. Schliesslich ist die Maternité Alpine trotz der Aufnahme in die Spitalliste auf die Unterstützung von privaten Sponsoren und GenossenschafterInnen angewiesen. Bettina Dauwalder, Gewerkschaftssekretärin beim VPOD Bern, glaubt, dass der Hebel anderswo angesetzt werden muss. Das Problem liege unter anderem in der restriktiven Finanzierung durch die Krankenkassen und den Kanton Bern. «Die bürgerlichen Politiker im Kantonsparlament lehnen Anträge, die Grundversorgung und die Vorhalteleistungen der Spitäler angemessen zu finanzieren, regelmässig ab», sagt Dauwalder. Es seien zudem oft dieselben PolitikerInnen, die gleichzeitig verlangten, dass überall im Kanton das volle Angebot gewährleistet werden soll. «Wenn ein Spital die Grundleistung inklusive Geburtshilfe anbieten soll, dann muss das Berner Volk den Kanton dazu verpflichten, diese Leistungen auch voll zu bezahlen», fordert sie deshalb.

Anouk Eschelmüller