Gefängnis Champ-Dollon: Selbstverstümmelungen in vollgepferchten Genfer Zellen

Nr. 17 –

Streikende GefängniswärterInnen und Gesuche um Freilassung wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen: Im Genfer Untersuchungsgefängnis Champ-Dollon hat die Stimmung den Siedepunkt erreicht.

Zwei auf einen Platz: Das Genfer Gefängnis Champ-Dollon schlägt nicht nur Schweizer, sondern auch die meisten europäischen Negativrekorde. Auf 376 Plätze kommen in Genf 800 Häftlinge. Wer zuletzt kommt und sich nicht wehren kann, liegt auf einer Matratze am Boden. Rund siebzig Häftlinge sind in dieser Situation, die jüngst von einem Waadtländer Gericht als Verstoss gegen die europäische und die Waadtländer Gesetzgebung bezeichnet worden ist. Nun schlägt der Genfer Arzt Hans Wolff Alarm.

«Allein im Monat März haben wir 26 Selbstverletzungen und 16 gewaltbedingte Notfälle behandeln müssen», bilanziert Wolff gegenüber der Zeitung «Le Temps». Für den engagierten Mediziner, Direktor der Gefängnismedizinischen Abteilung des Genfer Universitätsspitals, ist die Situation katastrophal. Gewalttaten unter den Häftlingen würden immer häufiger und immer schwerer, aber auch Selbstverstümmelungen nähmen massiv zu. «Das Zusammengepferchtsein, die Spannungen, der Stress und der Mangel an physischer Betätigung bringen die Menschen an den Rand der Verzweiflung.» Gegenüber der WOZ will sich Wolff derzeit nicht näher dazu äussern.

Seit Jahren beobachten Menschenrechts- und andere Organisationen besorgt die Situation in Champ-Dollon. Am 14. Februar 2013 beispielsweise publizierte die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter einen alarmierenden Bericht. Er beruht auf einer Visite im Vorjahr, als sich noch rund hundert Häftlinge weniger im Gefängnis aufhielten als heute. Schon damals zeigte sich die Kommission «sehr besorgt» über das Problem der Überbelegung. Sie kritisierte dreckige Gänge, schmutzige Spazierhöfe und verunreinigte Duschen, ungenügende hygienische Bedingungen in der Küche, mangelhafte Trennung zwischen Frauen und Männern, zu lange Wartelisten für den Zugang zu medizinischer Versorgung, monatelange Wartefristen für eine Beratung durch den Sozialdienst oder einen Zahnarzttermin.

Massive psychische Probleme

Eine Situation, die auch Wolff Sorgen macht: «Wir kommen in den Konsultationen kaum mehr dazu, uns um die Behandlung chronischer oder die frühzeitige Erkennung ansteckender Krankheiten zu kümmern.» Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Gesundheit der Gefangenen und die Sicherheit im Gefängnis. Und es führt, nach der Entlassung der Betroffenen, zu Problemen auch ausserhalb der Gefängnismauern. «Je schlechter behandelt sich ein Häftling vorkommt, desto mehr hegt er anschliessend Rachegefühle», wird Wolff von «Le Temps» zitiert.

Die Überbelegung von Gefängnissen ist ein allgemeines Phänomen. Eine neue Studie des Inselspitals Bern zeigt, dass 43 Prozent der Häftlinge in der Schweiz psychische Probleme haben, die zu einem selbstverletzenden Verhalten oder zu Aggressionen gegen Mithäftlinge führen können. Nur: Schweizweit liegt die Belegungsrate bei 94,6 Prozent, in Champ-Dollon beträgt sie über 200 Prozent …

Unterdessen demonstrieren in Genf sogar die GefängniswärterInnen. Einige von ihnen kämen nur noch alkoholisiert, unter Medikamenten und mit Angst im Bauch zur Arbeit, gibt Christian Antonietti, der Präsident des Polizeipersonalverbands, zu Protokoll. Am 8. April legten die 170 WärterInnen von Champ-Dollon während einer Stunde die Arbeit nieder und drückten vor dem Gefängnis ihre Besorgnis und Unzufriedenheit aus.

Pierre Maudet, den freisinnigen Genfer Justiz- und Polizeidirektor, beeindruckt das alles nicht besonders. «Die Überbelegung ist Folge unseres entschlossenen Vorgehens gegen die Kriminalität. Die Leute sind im Gefängnis, weil sie nicht mehr auf der Strasse sind», rechtfertigt er sich am öffentlichen Fernsehen. Die Lage in Champ-Dollon spitzt sich seit letztem Herbst zu. Damals beschlossen Maudet und Generalstaatsanwalt Olivier Jornot, ein ehemaliges Mitglied der rechtsextremen Vigilants, der sich bei der Liberalen Partei weissgewaschen hat, auf den Strassen Genfs Ordnung zu schaffen. Seither werden bettelnde Roma, Hütchenspieler, Taschendiebinnen, Dealer, Schwarzarbeitende und Papierlose von der Strasse weg eingesperrt. Die politischen Verantwortlichen haben eine einzige Antwort auf die Verstopfung des Knasts: Die Aufnahmekapazität soll bis 2017 verdoppelt werden.

Nur weil die Ausweispapiere fehlen

Die Menschenrechtsorganisation Ligue Suisse des Droits de l’Homme (LSDH) sieht das anders. In Champ-Dollon seien auch Menschen inhaftiert, deren einziges Vergehen fehlende Ausweispapiere seien. Die Liga verlangt einen Kurswechsel, Alternativen zum Freiheitsentzug und insbesondere den sofortigen Verzicht auf Inhaftierungen wegen illegalen Aufenthalts: Dass Menschen wegen eines einfachen Verstosses gegen die Ausländergesetzgebung inhaftiert würden, widerspreche nicht nur der europäischen Rechtsprechung, sondern sei «ethisch, moralisch und aus praktischen Gründen schlicht inakzeptabel», schreibt die Organisation.

LSDH-Vorstandsmitglied Dina Bazarbachi hat in den letzten Tagen zwei mit der Überbelegung begründete Gesuche um Freilassung von Häftlingen eingereicht. Die Rechtsanwältin hat sich mit der Verteidigung von Roma, die gegen das Bettelverbot verstossen haben und eingekerkert wurden, weil sie ihre Busse nicht bezahlten, einen Namen gemacht. Bazarbachi ist sich bewusst, dass die Gesuche wenig Chancen auf Erfolg haben, aber sie ist entschlossen, wenn nötig bis zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu gehen.