«Einzelhaft kann töten»: Der oberste Gefängnisarzt über mangelhafte Suizidprävention.

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Besuchsraum in der Strafanstalt der JVA Lenzburg
Besuchsraum in der Strafanstalt der JVA Lenzburg. Foto: Ursula Häne

WOZ: Herr Wolff, Sie leiten an der Universität Genf die Abteilung für Gefängnismedizin. Von 2003 bis 2022 haben sich in Schweizer Gefängnissen 155 Menschen das Leben genommen. Allein 2022 waren es 13. Warum bringen sich so viele Menschen um, wenn sie eingesperrt sind?

Hans Wolff: Selbstmord ist immer ein Drama, ganz besonders im Freiheitsentzug. Die Ursachen sind vielfältig wie zum Beispiel Probleme, die bereits zu vorherigen Suizidversuchen geführt hatten, aber auch kriminologische Faktoren wie eine lange Haftstrafe oder eingeschränkte Aussenkontakte. Der grösste Risikofaktor in Haft ist aber die disziplinarische Einzelhaft.

Was ist so gefährlich an dieser Einzelhaft?

Diese Disziplinarstrafe reisst Häftlinge aus ihrem gewohnten Umfeld. Meist sind sie 23 Stunden am Tag in der Einzelzelle, was zu Frustrationen und Affekthandlungen führen kann. Das Suizidrisiko ist 10 bis 15 Mal so hoch wie in Normalhaft beziehungsweise im Gruppenvollzug, 100 bis 150 Mal so hoch wie in Freiheit. Man kann also sagen, dass disziplinarische Einzelhaft töten kann.

Portraitfoto von Gefängnismediziner Hans Wolff
Gefängnismediziner Hans Wolff

Sind sich die zuständigen Behörden dieser Risiken bewusst?

Es ist jedenfalls erschreckend, wie wenig die Öffentlichkeit darüber weiss – und oft auch Vollzugsbeamte oder Gefängnisleitungen. Die Gefängnisleitungen müssten sich die Frage stellen, was denn die positiven Effekte von Disziplinarstrafen sind. Natürlich wirken sie als Abschreckung und können die Disziplin verbessern. Um die Disziplin zu wahren, gibt es aber andere Bestrafungsmöglichkeiten, die ein geringeres Risiko mit sich bringen. Das zeigt ein Blick in andere Länder, zum Beispiel nach Rumänien.

Was macht man in Rumänien anders?

Dort wird die disziplinarische Einzelhaft sehr selten angewendet, und dennoch gibt es keine signifikanten Disziplinarprobleme in den Anstalten. Da die Effizienz von disziplinarischer Einzelhaft so gut wie nie wissenschaftlich untersucht wurde, ist es schwierig zu sagen, was nun effizienter ist. Aber es ist belegt, dass die gesundheitlichen Risiken von Einzelhaft, inklusive Todesrisiko, deutlich höher sind als bei anderen Haftformen.

Wie liessen sich Suizide im Gefängnis verhindern?

Personen mit einem hohen Suizidrisiko müssten gleich beim Eintritt als solche identifiziert werden. Dazu braucht man in allen Haftanstalten gut funktionierende Gesundheitsdienste, die inhaftierte Personen möglichst schnell, auf jeden Fall innerhalb von 24 Stunden, befragen und untersuchen. Das ist in der Schweiz nicht überall der Fall. Eine gute Zusammenarbeit zwischen Gefängnisverwaltung und Gesundheits- und Sozialdiensten hilft, Alarmsignale frühzeitig zu erkennen und einen niederschwelligen Zugang zu psychologischer und medizinischer Versorgung sicherzustellen. Zudem sind soziale Kontakte mit der Aussenwelt, aber auch innerhalb der Haftanstalt wichtig. In Spanien und Frankreich gibt es Gefängnisse mit einem Mentoringsystem: Gefangene bekommen bei Hafteintritt einen anderen Häftling als Mentor, der ihnen im Gefängnisalltag zur Seite steht. Das kann den sogenannten Haftschock abschwächen und helfen, gängige Probleme zu lösen.

Anfang Jahr berichtete die «Tribune de Genève», dass in den Genfer Gefängnissen immer mehr Personen mit schweren psychiatrischen Problemen untergebracht sind. Ist das eine generelle Tendenz?

Das ist ein europaweites Problem. Ich beobachte das konkret hier in Genf, aber als Mitglied des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter sehe ich das in allen 46 Europaratsländern – von Norwegen über Frankreich bis Malta.

Besonders schlimm ist es in Gefängnissen, in denen schlechte Bedingungen herrschen. In Frankreich gibt es vielerorts eine dramatische Überbelegung, oft über 200 Prozent, aber auch das Genfer Gefängnis Champ-Dollon ist seit 25 Jahren dauerhaft überfüllt. Phasenweise waren es bis zu 904 Häftlinge auf 398 Plätzen, zurzeit sind es 530. Überbelegung heisst: weniger Arbeitsmöglichkeiten, weniger Privatsphäre, erschwerter Zugang zum Telefon, zu den Sozial- und Gesundheitsdiensten, weniger Aktivitäten oder längerer Zelleinschluss.

Gefangene leiden je nach Statistik bis zu zehnmal häufiger an psychischen Krankheiten als Nichtgefangene. Liegt das an den Haftbedingungen?

Das ist die Huhn-oder-Ei-Frage: Kommen Menschen mit psychischen Krankheiten eher ins Gefängnis, weil sie sich schlechter in der Gesellschaft zurechtfinden? Oder kommen sie gesund in Haft und werden durch die Bedingungen krank? Es gibt viele Studien, von denen die einen dies und andere jenes belegen. Klar ist: Im Gefängnis sitzen zu einer grossen Mehrheit sozial benachteiligte, arme Menschen. Und wer in der Gesellschaft auf der sozialen Leiter unten steht, ist häufiger körperlich oder psychisch krank. Kommen diese Menschen in einen aggressiven Kontext, der sie nicht schützt, dekompensieren sie – das heisst, sie entwickeln verschiedene psychische Störungen oder körperliche Symptome, die vorher kompensiert waren. Das ist ein explosiver Cocktail.

Ein Beispiel, wie es anders laufen könnte, ist das Gefängnis im norwegischen Halden. Es ist ein Hochsicherheitsgefängnis mit exzellenten Wohnbedingungen, in dem alle Inhaftierten eine sinnvolle Arbeit haben, bis zu zehn Stunden am Tag beschäftigt sind und eine Berufsausbildung machen können. Das hilft enorm für die soziale Rehabilitation. Auch wurde dort die Rückfallquote innerhalb von zwanzig Jahren halbiert, von fast siebzig auf unter dreissig Prozent.

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) schreibt in einem Bericht, die psychiatrische Grundversorgung in Schweizer Gefängnissen sei unzureichend. Was sind die grössten Herausforderungen?

Zusätzlich zu den erwähnten systemischen Problemen fehlt es an Psychiater:innen und Psycholog:innen. Wenn wir diese für die Arbeit mit Gefangenen gewinnen wollen, müssen wir ein Umfeld schaffen, in dem sie nach anerkannten medizinethischen Richtlinien arbeiten können. Das ist heute nicht immer der Fall. Sehr wichtig ist etwa die Frage, ob der Gesundheitsdienst unabhängig von Justiz und Vollzug ist. In zwanzig Kantonen ist er der Gefängnis- oder Justizdirektion unterstellt. Da ist zu befürchten, dass das medizinische Personal gegenüber dem oder der Chef:in, der Gefängnisdirektion, loyaler ist als gegenüber seinen Patient:innen. Um ein Vertrauensverhältnis zu schaffen, muss die Schweigepflicht garantiert und Interessenkonflikte müssen ausgeschlossen sein. Sonst erhalten Gesundheitsarbeiter:innen wichtige Informationen nicht, und das ist auch für die psychische Gesundheit hochrelevant. Einer Ärztin mitzuteilen: «Ich habe Suizidgedanken», braucht viel Vertrauen.

Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Justizvollzug veröffentlichte 2021 ein Handbuch zur psychiatrischen Versorgung im Freiheitsentzug, auch mit Empfehlungen zur Suizidprävention. Dennoch kritisiert die NKVF, dass die Gefängnisse präventive Massnahmen nur ungenügend umsetzten. Wieso ist das der Fall?

Das Gefängnissystem reformiert sich nur schleppend. Es gibt einen negativen Anreiz für Veränderung, da der Hauptanreiz die Sicherheit ist, die humanistischen Werten oftmals im Wege steht. Veränderungen bergen immer ein gewisses Risiko. Geschieht ein Fehler und es kommt zum Beispiel zu einem Gefängnisausbruch, hagelt es Kritik. Danach werden jene, die Reformen verantworten, oftmals ersetzt. Diese Praxis zu durchbrechen, braucht Mut und vor allem eine langfristige Vision, die eine intelligente Mischung aus legitimen Sicherheitsinteressen und humanistischen Werten anstrebt. Nur so können Gefängnisse langfristig die negativen Effekte minimieren und soziale Ungleichheit nicht noch zusätzlich verstärken.

Der Gefängnismediziner

Hans Wolff (60) ist Chefarzt der Abteilung für Gefängnismedizin an der Genfer Universitätsklinik. Er präsidiert die Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzt:innen und lehrt Medizin an der Universität Genf. Als Vizepräsident des Europäischen Antifolterkomitees vertritt er die Schweiz im Europarat. In dieser Funktion hat er über hundert Gefängnisse in ganz Europa besucht. Zu seinen Spezialgebieten zählen Drogengebrauch, Infektionskrankheiten, psychische Gesundheit und Menschenrechte in Haft.

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