Enzyklopädie zeitgenössischer Irrtümer (28): Kosmopolitisch (identisch mit weltoffen)

Nr. 18 –

Äussert sich Weltoffenheit darin, wie weit man herumgereist ist? Oder doch eher darin, wie offen man die unmittelbare Umgebung wahrnimmt?

Das 21. Jahrhundert begann mit einem Weltwunder. Aus völlig unverständlichen Gründen – die Sportwissenschaft rätselt bis heute – wurde der FC St. Gallen Schweizer Fussballmeister. Tagelang sass A. in seinem kleinen Lokalreporterbüro und verstand die Welt nicht mehr. Nichts mehr war wie vorher.

Was nur soll man von einer Realität halten, die sich nicht mehr an die allgemeinen Regeln der Wahrscheinlichkeit hält?

Aus seiner Konsternation gerissen wurde er erst, als plötzlich das Telefon klingelte. Wie aus einer anderen Welt meldete sich eine unerhört aufgeregte Stimme aus dem Apparat: Die Reporterin der grössten Tageszeitung im Lande wollte wissen, wie ein solch erschütterndes Ereignis Wirklichkeit werden konnte: dass ein Klub aus der real existierenden Provinz Schweizer Fussballmeister wird.

Das also wollte sie ausgerechnet von A. wissen, der sich im Lauf seines Lebens zunehmend in einer kommoden Unzufriedenheit eingerichtet hatte. So, in diesem wohltemperierten Unglücklichsein, liess es sich vorzüglich durch die Tage schlendern, und das Beste daran war, dass man diesen Allzweckgemütszustand wunderbar mit seinesgleichen teilen konnte. Fast war es, als läge ein Schleier zarten Unglücklichseins über den Gässchen der Kleinstadt, als strahlte es sein milchiges Licht von den verstaubten Lampen über den Stammtischen der dazumal noch fulminant verrauchten Beizen; ja, dachte A. in seinem kleinen Büro, es ist wohl diese spezifisch kleinstädtische Unglücklichkeit, die unsereins so lebenspraktisch miteinander verbindet, diese Vertrautheit kollektiven Enttäuschtseins.

Und nun also, da das Unfassbare geschehen war (oder hatte es nicht vielmehr eingeschlagen?) und er auf einen Schlag keinen wirklichen Grund mehr für seine massgeschneiderte Unzufriedenheit hatte, sollte er dieser Reporterin aus der Weltstadt auch noch eine gescheite Erklärung über diesen plötzlichen Gemütswechsel abgeben.

A. schwieg zunächst, worauf die Reporterin drauflossprudelte und fortlaufend die Wörter «Sensation» und «sensationell» ausrief, zwischendurch lustvoll angewidert das Wort «Bratwürste» auf der Zunge ausrollte, «und das alles in der Provinz», sagte sie, wo die UreinwohnerInnen diesen unfassbar komischen Dialekt sprechen, der in der Grossstadt so virtuos nachgeäfft wird.

Mit was für einer Sensation diese Unglaublichkeit denn überhaupt noch zu vergleichen sei, fragte die Reporterin aus der Weltstadt fast ein wenig philosophisch den Lokalreporter aus der Kleinstadt.

A. hörte sich das alles an, und irgendwann, als die Reporterin endlich ausser Atem geriet und für ein paar Augenblicke journalistisch vor sich hin schwieg, fragte er sie, wann sie denn das letzte Mal in der Kleinstadt gewesen sei.

Wann sie das letzte Mal in der Kleinstadt gewesen sei?, wiederholte die Reporterin aus der Weltstadt. Ja, meinte A., wann sie das letzte Mal in der Kleinstadt gewesen sei. «Aber hallo», sagte die Reporterin, «ich gehe doch nicht in die Kleinstadt.» Ob sie denn je in der Kleinstadt gewesen sei, wollte A. weiter wissen. Nein, sie sei noch nie in der Kleinstadt gewesen, sagte die Reporterin aus der Weltstadt. Aber jetzt, wo sie eine Reportage über die Kleinstadt schreibe, jetzt werde sie doch sicher demnächst aus der Weltstadt in die Kleinstadt fahren, die Reise dauere ja nicht mal eine Stunde. «Nein», sagte die Reporterin aus der nahen Weltstadt, «nein, das ist nicht nötig. Ich mache die Recherchen im Büro, und zum Schreiben über die Kleinstadt muss ich noch lange nicht in die Kleinstadt.»

Wo sie denn in ihrem Reporterleben schon überall gewesen sei, wollte A. wissen. «Ach, wissen Sie», sagte die Reporterin aus der Weltstadt, «ich bin eben kosmopolitisch. Ich war schon überall. Panama, Argentinien, Bolivien, Mexiko, USA, Kuba, Kanada, Südafrika, Indien, Thailand, Japan, Australien …» Und während sie noch immer mit dem Aufzählen von Ländern beschäftigt war, legte A. den Hörer lautlos auf – und fiel augenblicklich in einen tiefen kleinstädtischen Schlaf.