Steuerpolitik: Staatsfeindliche Angriffe
Die seit Jahren anhaltende Krise hat die Schwächen der neoliberalen Rezepte aufgedeckt. Dennoch halten nicht bloss Wirtschaftsbosse und Aktionärinnen unbeirrt an diesen fest und bereichern sich weiter auf Kosten der Allgemeinheit. Auch die bürgerlich dominierte Politik in der Schweiz geht diesen Weg ungerührt weiter. Unter dem Deckmantel des Steuerwettbewerbs betreiben Bund und manche Kantone eine staatsfeindliche Steuerpolitik, die an die Substanz geht und die breite Bevölkerung trifft.
Es gibt wohl kaum ein anschaulicheres Beispiel für diese ideologische Verblendung als den grundsoliden Kanton St. Gallen. Dort steuern Unternehmen mittlerweile bloss noch zehn Prozent zu den Steuereinnahmen bei – es waren einmal über zwanzig Prozent. Im Kanton St. Gallen betreibt eine Allianz aus CVP, FDP und SVP seit zwei Jahrzehnten eine Steuersenkungs- und Steuergeschenkpolitik, die absurde Züge annimmt und den Staat, das Sozialsystem, das Bildungs- und Gesundheitswesen nachhaltig beschädigt. Seit Mitte der neunziger Jahre zieht sich folgendes Muster durch: Sparpaket, Steuersenkung, Sparpaket ... Mittlerweile folgt das sechste Sparpaket. Es richtet sich gegen die Schwächsten: Obwohl sich letztes Jahr das Stimmvolk deutlich gegen eine Kürzung der Ergänzungsleistungen aussprach, schlägt die Regierung nun vor, die ausserordentlichen Ergänzungsleistungen ersatzlos zu streichen. Es trifft arme AHV- und IV-RentnerInnen, gespart wird auch bei den Verbilligungen für Krankenkassenprämien sowie im Gesundheits- und Bildungswesen.
Sparpaket – das klingt danach, als wäre dieses Staatswesen marod. Das Gegenteil ist der Fall. St. Gallen ist finanziell kerngesund. Ende 2012 war dieser Kanton nicht bloss schuldenfrei, er besass netto 323 Millionen Franken Barvermögen. St. Gallen zählt auch bei den Pro-Kopf-Ausgaben zu den sparsamsten Kantonen. Besonders degoutant: Der Kanton ist auf Bundesebene Profiteur des horizontalen Steuerausgleichs und erhält aus diesem Topf netto 400 Millionen Franken – im Kanton selbst will die bürgerliche Allianz von einem horizontalen Finanzausgleich zwischen den Gemeinden hingegen nichts wissen. Die Reichen in steuergünstigen Orten wie Mörschwil schützt der Staat, während er die Armen einem Spardiktat opfert.
St. Gallen ist bloss ein besonders krasses Beispiel für einen Steuerwettbewerb und eine Politik der Standortschwächung, die die staatlichen Angebote nachhaltig beschädigen. Andere Beispiele bieten unter anderen Schwyz oder Appenzell Ausserrhoden. In Schwyz haben die tiefen Steuern zwar Reiche angezogen, aber keine wertschöpfenden Arbeitsplätze geschaffen. Wegen der rekordtiefen Dividendenbesteuerung sind zahlreiche Briefkastenfirmen nach Schwyz gezogen, aber bezüglich Wertschöpfung ist der Kanton in den letzten Jahren stehen geblieben. So rangiert er bezüglich Bruttoinlandsprodukt pro Kopf nur auf dem fünftletzten Platz der Schweizer Kantone. Ähnliches gilt für Appenzell Ausserrhoden, dessen Wirtschaft von der Finanzkrise überproportional betroffen wurde.
Um ganz andere Grössenordnungen geht es im Kanton Bern. Dieser strukturschwache Kanton war in den neunziger Jahren mit elf Milliarden Franken hoch verschuldet. Inzwischen sind diese Schulden trotz systematischer Steuersenkungen halbiert. Nun fehlen dem Kanton deswegen aber jährlich wiederkehrend schätzungsweise 400 bis 500 Millionen Franken. Noch hat die Regierung nicht gesagt, wo gespart werden soll. Sicher ist: Diese Sparrunde wird sehr weh tun und einen Abbau staatlicher Leistungen zur Folge haben – im Gesundheitswesen geschieht dies bereits. In Bern gingen im März deswegen 20 000 Menschen auf die Strasse, die grösste Demo in der Schweiz seit zehn Jahren. Immerhin ein kräftiger Fingerzeig. Doch ein Ende des desaströsen Steuerwettbewerbs ist nicht absehbar. Die bevorstehende Umsetzung der Unternehmenssteuerreform III, zu der sich der Bundesrat am Freitag dieser Woche äussert, wird den Kantonen Steuereinnahmen von vier bis fünf Milliarden Franken entziehen.
Gewerkschaften und die Linke warnen schon lange vor dieser Entwicklung. Der Leidensdruck bei den bürgerlichen Parteien und ihrer Wählerschaft ist offensichtlich noch nicht gross genug. Der Wahnsinn geht in die nächste Runde.