Grenfell Tower: Das Leben der Armen zählt in London nichts
Der Brand des Greenfell Tower ist die Folge von drei Jahrzehnten Londoner Stadtentwicklung für die Reichen.
«Diese Leute sind gestorben, weil sie arm waren», sagte der Londoner Rapper Akala am Tag nach dem Feuer im Grenfell Tower einem Fernsehreporter. Überspitzt? Reisserisch? Schliesslich geht es hier doch um die Weltstadt London, und dazu noch um die reichste Gemeinde dieser Stadt, Kensington and Chelsea. Aber die Hintergründe der Katastrophe von vergangener Woche lassen keinen anderen Schluss zu: Die Ungleichheit in der britischen Hauptstadt hat solch groteske Ausmasse angenommen, dass die Armen um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie abends in ihre Wohnungen zurückkehren.
Der Brand des Grenfell Tower, der laut jüngsten Informationen 79 Menschen das Leben gekostet hat, führt auf grausige Weise vor Augen, was bei der Londoner Stadtentwicklung in den vergangenen drei Jahrzehnten falsch gelaufen ist. Im Kern geht es um eine Wohnpolitik, die sich allein nach den Bedürfnissen der Reichsten richtet. Dass in London akute Wohnungsnot herrscht, ist den VertreterInnen dieser Politik – in den Kommunalregierungen, im Parlament sowie in den Büros der BauentwicklerInnen – egal. In ganz London werden unzählige Neubauprojekte hochgezogen und von den verantwortlichen GemeinderätInnen meist enthusiastisch begrüsst. Sie schaffen aber kaum die dringend benötigten Wohnungen für Familien am unteren Ende der Einkommensleiter. Sondern Nobelappartments. Wenige Hundert Meter östlich des Grenfell Tower ist eine neu renovierte Vierzimmerwohnung im Wert von fünfeinhalb Millionen Pfund auf dem Markt.
Oft sind die Luxusbauten blosse Investitionsobjekte: Fast 20 000 Immobilien in London stehen leer – und nirgendwo gibt es so viele «empty homes» wie in Kensington and Chelsea. Vor drei Jahren setzte der dortige Gemeinderat noch eins drauf: Um zu beweisen, wie sehr reiche Menschen geschätzt werden, bot er den AnwohnerInnen, die die höchste Kategorie der Gemeindesteuer zahlen – und entsprechend auf dem wertvollsten Boden wohnen –, einen Rabatt von hundert Pfund auf ihre Steuerrechnung.
Menschen ohne Geld hingegen sind ein Ärgernis. Wenn sie bei der Verwaltung auftauchen, dann nicht wegen millionenschwerer Investitionen, sondern wegen defekter Beleuchtungen, undichter Dächer oder anderer dringenden Reparaturen. Viele dieser Menschen leben in Sozialbauten, die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden – wie der Grenfell Tower, 1974 fertiggestellt. Damals galt die soziale Durchmischung der Stadt, das Nebeneinander von Leuten mit unterschiedlichem Vermögen, noch als wünschenswertes Modell urbaner Entwicklung.
Aber seit den achtziger Jahren ist dieses Modell unter Druck. Der öffentliche Wohnungsbau ist dem Neoliberalismus zum Opfer gefallen, und die bestehenden Gemeindebauten nehmen Platz ein, der lukrativer genutzt werden könnte. Daher werden diese Gebäude vernachlässigt – in der Hoffnung, dass sie irgendwann abgerissen werden können. Nicht nur der Komfort der BewohnerInnen gilt als Nebensächlichkeit, sondern auch ihre Sicherheit.
Die MieterInnenvereinigung Grenfell Action Group hatte wiederholt auf Sicherheitsmängel aufmerksam gemacht: Der Wohnblock verfügte weder über einen zentralen Feueralarm noch über eine Berieselungsanlage, und es gab nur einen Notausgang. Zudem verwiesen MieterInnen auf die gefährliche Installation von Gasleitungen im Treppenhaus. Geld für Renovierungen hätte die Gemeinde genug: Sie hat rund 270 Millionen Pfund an Reserven angehäuft.
Doch der Gemeinderat, der die Instandhaltung der Sozialwohnungen einer privaten Firma übertragen hatte, wischte die Bedenken beiseite. Auch die Sanierung des Blocks, die knapp zehn Millionen Pfund kostete und letztes Jahr abgeschlossen wurde, ignorierte die Sicherheitslücken. Schlimmer noch: Die äussere Verkleidung, die bei der Sanierung angebracht wurde, war laut Fachleuten dafür verantwortlich, dass sich das Feuer so schnell ausbreiten konnte. Gemäss Recherchen der «Times» hätte die feuerresistente Version derselben Verkleidung gerade einmal 5000 Pfund mehr gekostet.
Nur ein «katastrophaler Zwischenfall» würde die Inkompetenz des Vermieters vor Augen führen, schrieb die Grenfell Action Group im vergangenen November. Das nun tatsächlich eingetretene Desaster zeigt, wie fatal eine Wohnungspolitik sein kann, die sich nur an den Interessen der Reichen orientiert.