Aufstände in Tunesien: Zwischen Armut und Religion
Der Mord am Oppositionspolitiker Schokri Belaid hat Tunesien zwei Jahre nach dem Beginn der Jasminrevolution in Unruhe gestürzt. Es geht um Moral und Religion. Aber nicht nur.
Sie wurden gewählt, weil ihre Hände nicht schmutzig waren. Unter dem Regime von Präsident Ben Ali war die islamistische Ennahda verboten. Ihre Anhänger sassen im Gefängnis oder im Exil. Mit ihrem Wahlsieg Ende 2011 wurden aus den Terroristen regierende Minister. Seit dem Mord an Schokri Belaid ist es mit dem Ruf der Islamistenpartei jedoch vorbei.
Der Anwalt und Menschenrechtsaktivist wurde von Unbekannten erschossen. Obwohl seine linke Partei der patriotischen Bewegung in der Verfassunggebenden Versammlung nur über einen Sitz verfügt, war der 48-Jährige das Gesicht der Opposition. Belaid hatte sich mit seiner Kritik an Ennahda über die Parteigrenzen hinweg Respekt verschafft. Binnen kurzem machten Zehntausende Menschen ihrem Zorn Luft. Polizeistationen wurden angegriffen, Büros der Ennahda angezündet.
Es greift zu kurz, die Proteste nach dem ersten politischen Attentat seit der Jasminrevolution von 2011 als spontane Reaktion abzutun. Oder auf den Gegensatz zwischen religiösen und säkularen Kräften zu reduzieren. Dafür war der Gewaltausbruch in einigen Regionen zu stark. In Gafsa im Bergbaugebiet, warfen die DemonstrantInnen Molotowcocktails gegen die Polizei und wollten das Gebäude der Provinzregierung stürmen. In Sidi Bouzid gingen rund 4000 Menschen gegen die Sicherheitsbehörden vor. Die Stadt war durch die Selbstverbrennung des Obstverkäufers Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 zur Wiege der Jasminrevolution geworden – und damit des Arabischen Frühlings.
Arbeitslosigkeit auf Allzeithoch
«Nichts hat sich seit der sogenannten Revolution hier getan», sagt ein Bauer, der in der verarmten Region rund um Sidi Bouzid lebt und noch immer nicht weiss, wie er überleben soll. Offiziell liegt in Tunesien die Arbeitslosenquote bei achtzehn Prozent. «In den ärmsten Regionen reicht sie bis zu achtzig Prozent», versichert Mohamed Mselmi, Generalsekretär der grössten Gewerkschaft, UGTT. «Auf dem Land hat alles angefangen, und nun verbreitet sich hier das Gefühl, dass den Protestierenden die Revolution gestohlen wurde.» Besonders betroffen sind Junge. Selbst die, die einen Hochschulabschluss haben Unter ihnen sind zwischen vierzig und fünfzig Prozent ohne Arbeit.
Tunesien hatte 2012 auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage gehofft. Aber der Tourismus, von dem das Land abhängt, konnte sich aufgrund der Wirtschaftskrise in Europa nicht erholen. «Die Erwartungen sind viel zu hoch», sagt Antinuo Nucifora, Vertreter der Weltbank in Tunesien. «Es wird lange dauern, bis die Wirtschaft wieder Jobs schafft.»
Aber Tunesien hat nicht einmal eine Verfassung. In den letzten zwei Jahren konnte sich die gewählte Verfassunggebende Versammlung zu keinem Konsens durchringen.
Wer ist die Ennahda?
Nach den jüngsten Protesten soll die bisherige Regierung nun durch eine Übergangsregierung ersetzt werden, die bis zu den Wahlen im Juni die Amtsgeschäfte verwaltet. Es soll ein Technokratenkabinett werden. So hat es Premierminister Hamadi Dschebali vorgeschlagen.
Damit will der Ennahda-Mann seine Partei aus der Schusslinie nehmen, die beschuldigt wird, am Mord von Belaid mitverantwortlich zu sein. Ein im Internet kursierendes Video zeigt die engen Kontakte von Ennahda zu radikalen salafistischen Gruppen, die in den beiden ersten Jahren nach der Revolution gegen alles «unislamische» gewaltsam vorgegangen sind. Ennahda-Führer Raschid Ghannouchi bittet darin die Salafisten um Geduld. Er versichert ihnen: «Eure Zeit ist bald gekommen.» Das ist eine Allianz, die für alle Liberalen, Linken und auch Konservativen, die weiter in einem säkularen Tunesien leben wollen, ein Albtraum ist.
Im Wahlkampf versicherte Ennahda, man wolle keinen islamistischen Staat. «Nur ein guter Propagandaschachzug», glaubt Karim Ben Smail, Geschäftsführer des Ceres-Verlags, «was Ennahda will, sehen wir doch jetzt.» Er meint die Ligen zum «Schutz der Revolution», die im Auftrag von Ennahda agieren sollen und in den grösseren Städten Ableger unterhalten. Ihre Mitglieder stören Versammlungen politischer Gegner, greifen kritische Künstler, Journalistinnen und Oppositionelle gewaltsam an. Sie werden von radikalen Salafisten kontrolliert.
Die Salafisten proben den Kulturkampf. In einem Interview, das der Justizminister verbieten liess, sprach Abou Iyadh offen über die Beziehungen zu Ennahda. Der Salafistenführer soll für den Anschlag auf die US-Botschaft im September in Tunis verantwortlich sein.