China: Arbeit sogar für junge Aufmüpfige

Nr. 34 –

Chinas ArbeiterInnen akzeptieren nicht mehr jeden Lohn. Wenn dadurch die Konsumkraft steigt, könnten sich jene im Westen irren, die Chinas Wirtschaft vor dem Einbruch sehen.

Auf dem Hof des Unternehmens stehen etwa achtzig ArbeiterInnen. Sie sehen aus, als wollten sie gleich zu einem Betriebsausflug aufbrechen: Sie haben sich ordentlich in drei Reihen aufgestellt, für das Gruppenfoto. In den Händen halten sie rote Banner. Auf dem vorderen, das auf dem Boden hockende ArbeiterInnen halten, steht: «Die Angestellten wenden sich mit der Bitte um Unterstützung an gerechte Menschen in der Gesellschaft.» Auf dem mittleren steht: «Gebt das mit Schweiss und Blut verdiente Geld zurück! Wir wollen essen!» Und auf dem hinteren, an ausgestreckten Armen über die Köpfe gehalten: «Die Regierung schützt die Unternehmen, Lohnrückstand drei Monate.» Dies ist kein Betriebsausflug, es ist eine Demonstration.

Dass die Beschäftigten hier in Yiwu in der ostchinesischen Provinz Zhejiang auf dem Hof stehen, hat mit Huang Caigen zu tun, dem Gründer der ArbeiterInnenschutzorganisation Xiaoxiao Yu. «Natürlich würden die lieber rausgehen, in die Innenstadt, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen», sagt er. «Aber erst kommt die Polizei, danach die bewaffnete Polizei, und das ist für die Arbeiter nicht von Vorteil. Jedes Mal werden dann drei oder vier von ihnen festgenommen. Und ihr Problem wird erst recht nicht gelöst.»

«Das Unternehmen ist pleite», erläutert Huang die Kundgebung. «Es kann die ausstehenden Löhne nicht zahlen. Aber die Lokalregierung will nicht, dass das Unternehmen Konkurs beantragt.» Konkurse machen sich schlecht in der Statistik. Regierungskader werden gemäss des in ihrem Zuständigkeitsbereich erreichten Wirtschaftswachstums befördert. Und sie werden aufgrund der in ihrem Zuständigkeitsbereich ausbrechenden «Massenvorkommnisse» entlassen. Wenn die ArbeiterInnen an ihre Löhne kommen wollen, ist also ein Balanceakt gefragt.

«An sich war die Firma nicht unwirtschaftlich», sagt Huang. Es sieht auf den ersten Blick ganz ordentlich aus – nirgendwo liegt Müll, die Rasenflächen sind gemäht, keine kaputten Fensterscheiben, keine Schlaglöcher in der Einfahrt. Es stehen auch keine auf Halde produzierten Waren herum. Und an fehlender Nachfrage kann es eigentlich auch nicht gelegen haben. Hergestellt wurden hier einbruchsichere Wohnungstüren – und alle chinesischen WohnungseigentümerInnen lassen so eine metallene Sicherheitstür vor ihre hölzerne Wohnungstür einsetzen. «Das Unternehmen bekam einfach keinen Kredit mehr», sagt Huang. «Die Zentralbank hat diesen Sommer den Geschäftsbanken keine Kredite gewährt, und die Banken geben deswegen den Unternehmen nun keine Kredite mehr.»

Rauf oder runter?

Die globale Wirtschaftskrise ab 2008 war bisher an China scheinbar spurlos vorübergegangen. Die Regierung hatte in aller Eile ein Konjunkturprogramm in Höhe von vier Billionen Yuan aufgelegt (umgerechnet 600 Milliarden Franken). Weltbankpräsident Robert Zoellick war «begeistert», seine Bank korrigierte Chinas Wachstumsprognose nach oben, und das «Wall Street Journal» jubelte: «Wenn China die Welt vor einer globalen Krise retten will, dann ist dies der richtige Weg.» Heute hingegen, fünf Jahre später, heisst es plötzlich: «China hat grosse Probleme: Kein kleiner Rückschlag, wir reden hier von etwas Grundsätzlichem.» Und weiter: «Die gesamte Art des Wirtschaftens und das System, das drei Jahrzehnte lang unglaubliches Wachstum bewirkt hat, sind an ihre Grenzen gestossen.» Das schrieb vor kurzem der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman in der «New York Times». «Das chinesische System fährt sich sozusagen an die Grosse Mauer.» Kurz darauf korrigierte die Investmentbank Goldman Sachs ihre Wachstumsprognosen nach unten.

Aber stimmt diese Einschätzung? Früher hiess es, die chinesischen Wirtschaftsstatistiken seien gefälscht, weil der Energieverbrauch viel langsamer steige als die Industrieproduktion. Heute heisst es, die Statistiken seien gefälscht, weil die Zahlen für die Industrieproduktion des Vorjahres bereits in der dritten Januarwoche vorgelegt und dann nicht mehr korrigiert werden. 1990 war zu hören, dass «Verschuldungsketten» die chinesische Wirtschaft zusammenbrechen lassen. Zehn Jahre später war dann die Rede davon, dass die politisch motivierten Kredite an marode Staatsunternehmen das Bankensystem in die Knie zwingen würden. Vor fünf Jahren wurde vorausgesagt, die gewaltige Immobilienblase platze demnächst, der Exportwirtschaft brächen die Absatzmärkte weg. Und der heutigen Kreditverknappung – die die internationale Wirtschaftspresse wahlweise als «Credit Crunch» (Kreditklemme) bei den offiziellen Banken oder als «Crackdown» (scharfes behördliches Vorgehen) gegen nicht lizenzierte Schattenbanken beschreibt – ging eine enorme Zunahme an neuen Krediten voraus: Ihr Volumen wuchs im ersten Quartal 2013 um 58 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.

Die Probleme sind also weniger konjunktureller als struktureller Natur. Denn das chinesische Wachstumsmodell basiert vor allem auf tiefen Löhnen. Das hat zwei Folgen: Erstens erzielt das Land durch die niedrigen Lohnstückkosten auf dem Weltmarkt einen Preisvorteil. Chinas Wachstum war immer exportorientiert und exportgetrieben. Aber deswegen so zu tun, als sei das chinesische Wirtschaftswachstum vollkommen exportabhängig, ist auch nicht richtig. Immerhin umfasst der Binnenmarkt 1,3 Milliarden Menschen. Das zeigt sich etwa im Bausektor, einem weiteren wichtigen Wachstumsmotor – und ganz offensichtlich nicht exportfähig. Dort werden die ArbeiterInnen so schlecht bezahlt, dass sie sich nie eine der von ihnen gebauten Wohnungen werden leisten können. Trotzdem sind bei vielen Immobilienprojekten schon vor dem ersten Spatenstich alle Wohnungen verkauft.

Draussen vor dem Arbeitsmarkt

Spekulative Anlagen in Wohnungen, in denen nie jemand wohnen wird, sind nicht viel wirtschaftlicher als Investitionen von Unternehmen, die Zugang zu Bankkrediten mit einem Zinssatz unterhalb der Inflationsrate haben. Und das ist die zweite Folge der schlechten Entlohnung. Während in anderen Volkswirtschaften investiert wird, um später mehr konsumieren zu können, sieht es in China so aus, als würde vor allem investiert, um später noch mehr investieren zu können. Nach dreissig Jahren rasanten Wachstums wird immer noch knapp die Hälfte des chinesischen Bruttoinlandsprodukts investiert. Gibt es denn immer noch so viele gute Geschäftsideen? Irgendwann müssten die profitabelsten Investitionen doch alle getätigt sein.

Wenn nicht mehr sinnvoll investiert werden kann, dann sollte der steigende Konsum die sinkende Nachfrage nach Investitionsgütern ersetzen. Gerade das ist aber beim chinesischen Modell – wegen der schlechten Bezahlung – nicht so einfach. Doch das heisst nicht, dass die chinesische Wirtschaft plötzlich in einer besonders schwierigen Lage wäre. Noch nicht einmal die DemonstrantInnen auf dem Fabrikgelände in Yiwu sind in einer besonders schwierigen Lage. Sie fordern nicht den Erhalt ihrer Arbeitsplätze – im Gegenteil. Sie wollen, dass endlich ein Konkursverfahren eröffnet wird. «Laut den chinesischen Gesetzen werden die ausstehenden Löhne der Arbeiter zuerst bedient», sagt Huang. «Normalerweise bekommen sie also ihr Geld. Ich gehe nicht davon aus, dass all dies hier», sein Arm beschreibt einen Halbkreis, «keinen Käufer findet.»

Nicht mal die vierzig Männer, die nur mit blauer Baumwollunterhose oder rotem Slip bekleidet nachts auf dem grossen Platz vor der riesigen weiss gekachelten Halle des offiziellen städtischen Arbeitskräftemarkts liegen, sind in einer Notlage. Sie sind zwar arbeitslos und bestimmt nicht reich – die meisten haben nur eine löchrige Decke oder Bambusmatte als Unterlage und eine aus Plastikstreifen gewebte Tasche mit geplatztem Reissverschluss als Gepäck. Sie sind hier, weil ein Bett in einem Viererzimmer ohne Toilette und Klimaanlage pro Nacht mindestens zwanzig Yuan, umgerechnet drei Franken, kosten würde. Ausserdem ist es nachts draussen warm (und sicher) genug. Die Männer harren vor dem Markt aus, weil sie «mit den bisher gebotenen Löhnen nicht zufrieden waren», sagt Huang. Morgen werden sie weiter nach Arbeit suchen. Wenn nicht auf dem offiziellen Arbeitsmarkt, dann bei einer der gut vierzig privaten Vermittlungsagenturen auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Die dort fälligen 200 Yuan für eine erfolgreiche Vermittlung zahlen die Firmenchefs. Was dazu geführt hat, dass sich die Agenturen für die Arbeitsbedingungen zunächst einmal herzlich wenig interessieren.

Aber die Tausenden von bunten, in Schaufenster geklebten Arbeitsanzeigen sind Vorboten eines Wandels. Die Unternehmen können sich die schlechte Bezahlung nicht mehr lange erlauben. Zuerst begannen die Elektronikunternehmen im Perlflussdelta damit, auch junge Männer anzustellen, die als «aufmüpfiger» gelten. Dann begann die metallverarbeitende Industrie im Jangtsedelta, auch als «schwächer» geltende junge Frauen – oder ältere Männer – einzustellen. Die Unternehmen stellen jetzt Leute ein, die sie noch vor zehn Jahren niemals genommen hätten. Doch auch das genügt nicht.

«Den Arbeitern genügen die Bedingungen nicht, die die Firmenchefs anbieten», sagt Huang auf dem Weg zu seinem kleinen Büro, das er im Stockwerk über den Vermittlungsagenturen gemietet hat. «Sie warten lieber ab, bis sie was Besseres finden.» Das heisst, hier in Wuyi passiert genau das, was Chinas Wirtschaft die benötigte Konsumsteigerung bringen kann: Endlich steigen die Löhne. «Denn freie Stellen», sagt Huang und lacht, «freie Stellen gibt es immer noch jede Menge.»

Chinas Wirtschaftsdaten : Zahlenspiele und Immobilienboom

Wirtschaftsdaten sollte man als eine besonders langweilige Art von Science-Fiction betrachten, sagte einmal der Volkswirtschaftsprofessor Paul Krugman, und «die chinesischen Zahlen sind noch viel fiktiver als die meisten anderen» – wegen der heimlichtuerischen Regierung, der kontrollierten Presse und der schieren Grösse des Landes. Die folgenden Angaben sind also mit Vorsicht zu geniessen – auch wenn sie einen Trend aufzeigen.

Vor nicht allzu langer Zeit ging die Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften (CASS) für 2013 von einem Wirtschaftswachstum von 8,4 Prozent aus. Hauptursache dafür seien «steigende Einkommen» – ein «Verdienst» des Plans der chinesischen Regierung, «die Einkommen zu verdoppeln». Allerdings merkte die CASS auch an, dass die Regierung langfristig stärker auf die Qualität und nicht nur auf die Quantität achten müsse: «Überkapazitäten und zu viele gleichartige Bauprojekte» seien zu vermeiden.

Laut offiziellen Angaben stiegen die Immobilieninvestitionen weiter an – im ersten Halbjahr 2013 um 20,5 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum 2012; der Wohnungsbau machte über zwei Drittel aus. Im gleichen Zeitraum verkauften Immobilienfirmen 27 Prozent mehr Fläche, ihr Umsatz stieg sogar um 40 Prozent. Hört denn niemand auf die CASS? Das letzte Treffen der chinesischen Regierung endete jedenfalls ohne Hinweis auf eine mögliche Beschränkung des Immobilienbooms. Und doch könnte es sein, dass zumindest im Hochhausbau abgespeckt wird: Gerade wurde die Fertigstellung des Shanghai Tower (632 Meter) gefeiert, jetzt hat man in Changsha den Bau des Sky City Tower, der mit 838 Metern zum weltweit höchsten Gebäude geworden wäre, ohne Angabe von Gründen gestoppt.