«Lettre International»: Arsenal des Geistes

Nr. 34 –

101 Nummern der Kulturzeitschrift «Lettre International»: Sie dokumentieren den Zusammenhang von Politik und Kultur und die Kunst des Essays. Sehr oft anregend, immer wieder auch notwendig.

Ein schöner Start: Das Titelbild der Nummer 1 von «Lettre International» wurde 1988 vom deutschen Künstler Jörg Immendorff gestaltet.

Kultur als Brückenbau – wenn dieser bildungsbürgerliche Kalenderspruch je zugetroffen hat, dann für die Zeitschrift «Lettre International». Sie hat die Verbindung zwischen Ost- und Westeuropa noch während des Kalten Kriegs gefördert. Mittlerweile antwortet sie auf die wirtschaftliche Globalisierung mit der Globalisierung der Kultur.

«Lettre International» hat zwei Gründer und zwei Gründungen. Die erste erfolgte 1984 durch Antonin J. Liehm in Frankreich. Dieses Jahr feiert allerdings der 1988 gegründete deutsche Ableger sein 25-Jahr-Jubiläum. In dessen mittlerweile 101 Heften findet sich auf rund 14 000 hochformatigen Seiten ein beeindruckendes Kompendium zeitgenössischen Denkens.

Der tschechische Intellektuelle Antonin J. Liehm hatte mit einer liberalen Kulturzeitschrift zum Prager Frühling 1968 beigetragen. «Wir machten Politik durch Kultur, durch Theater, Literatur und Philosophie. Man las uns als eine politische Zeitung im Medium der Kultur.» Das sollte auch für die spätere «Lettre»-Gründung gelten. 1969 nach Frankreich exiliert, war Liehm 1976 an der Entstehung der von Heinrich Böll, Günter Grass und Carola Stern herausgegebenen Zeitschrift «L76» beteiligt, die den west-östlichen Annäherungsprozess vorantreiben und osteuropäische DissidentInnen unterstützen wollte. 1977 wurde in der Tschechoslowakei die Charta 77 gegründet, die Menschenrechtsverletzungen anklagte, 1980 entstand in Polen die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc.

In der bipolaren Welt

In dieser Situation kultureller und politischer Aufbrüche gründete Liehm 1984 in Frankreich eine eigene Zeitschrift: «Lettre Internationale». Noch stärker als das deutsche Magazin «L76» setzte er darin auf die internationale Vernetzung. Finanzielle Unterstützung fand das Projekt kaum, aber es segelte hart im Zeitgeist. Kurz zuvor hatte die britische Premierministerin Margaret Thatcher ihre zweite Amtszeit angetreten, setzte der Neoliberalismus seinen Siegeszug fort und verkündete US-Präsident Ronald Reagan die Strategie, den Sowjetblock «totzurüsten». In der bipolaren Welt ging es darum, die Menschenrechte in Osteuropa einzufordern, zugleich sich nicht von den westlichen Regierungen vereinnahmen zu lassen. Liehm baute vor allem auf Gratisarbeit, doch gleichzeitig expandierte er. 1985 erschien eine italienische, 1986 eine spanische Ausgabe. 1988 lancierte Frank Berberich, zuvor Chefredaktor der «taz», das Heft unter dem sprachlichen Zwitter «Lettre International» in Deutschland.

Diese deutsche Version ist die zweite, nachhaltigere Gründung der Zeitschrift. Seit 1988 ist sie vierteljährlich erschienen. Da die französische Ausgabe 1993 aus finanziellen Gründen einging, ist seither die deutsche das Flaggschiff von «Lettre International». In den neunziger Jahren waren in vielen osteuropäischen Ländern regionale Ausgaben lanciert worden, ähnlich wie bei «Le Monde diplomatique», der monatlich der WOZ beiliegt. Viele von ihnen sind seither wieder eingegangen; gegenwärtig gibt es eine italienische, eine spanische, eine rumänische und eine ungarische Ausgabe. Die deutsche ist allerdings die bei weitem wichtigste mit einer Auflage von rund 23 000 Exemplaren.

1988 war «Lettre International» passend mit «Europäischen Meditationen» gestartet. «Mitteleuropa» wurde als neues Hoffnungsprojekt diskutiert, von Norberto Bobbio, Jens Reich, Hans Magnus Enzensberger, aber auch, von weiter her gesehen, von Octavio Paz und Mario Vargas Llosa. Von Beginn an wies jedes Heft vier bis fünf Themenblöcke auf. So widmete sich Heft 1 neben Europa zugleich den Themen «Literatur und Holocaust», «Jenseits des Feminismus» mit Beiträgen von Elfriede Jelinek und Jan Kott und dem «Tod Majakowskis» – Kultur also im weiten und im engeren Sinn.

Der Titel ist Programm und Realität zugleich. «Lettre» wird im französischen Sinn verstanden, umfasst alle Formen der Schrift, Erzählungen, Kommentare, Berichte, Rezensionen, Analysen, Interviews, vor allem aber, was sonst untergeht in der deutschsprachigen Publizistik: Essays. Die Internationalität wird mit vielen Übersetzungen und der Zusammenarbeit mit anderen Zeitschriften aus den verschiedenen Kulturkreisen garantiert. Auch thematisch versteht sich die Zeitschrift breit – neben der Kultur kommt die Wirtschaft zur Sprache, natürlich, aber auch die Naturwissenschaften werden in Ausflügen besucht.

Chefredaktor Frank Berberich hat im Jubiläumsheft eindrückliche Zahlen vorgelegt: Nahezu 3000 Artikel sind veröffentlicht worden, davon achtzig Prozent Übersetzungen. Mit seinem Format und seinem Umfang entspricht jedes Heft einem ziemlich dicken Buch. Und das ist alles ohne grossen Mäzen, Verlag oder Sponsor geleistet worden. «Lettre» hat Hans-Magnus Enzensbergers «Transatlantik» (1980–1991) überlebt und Zeitgeistmagazine wie «Tempo» (1986–1996) sowieso.

Politik heute

Wenn man die 25 Jahrgänge der Zeitschrift durchblättert – was mittlerweile unter lettre de zum Teil auch elektronisch möglich ist –, tut sich eine erstaunliche Fülle auf. Zwei willkürliche Beispiele: In Nummer 4 wurde neben dem Kernthema «Mitteleuropa» angesichts der Fatwa gegen Salman Rushdie die Auseinandersetzung mit dem Islam begonnen, zugleich aber auch «Kafka» und «Trieb und Macht» verhandelt. Die Jubiläumsnummer 50 im Herbst 2000 stellte Artikel zu «Gewalt und Zivilität» und zum «Lärm der Steppen» neben solche zu «Buchmarkt und Dichterträumen».

«Eine politische Zeitung im Medium der Kultur» – was Liehm ursprünglich in der CSSR proklamiert hatte, kann noch heute gelten. Es geht nicht um Tagespolitik, sondern um Kultur als Lebenselixier, die die geistigen Grundlagen auch für die Politik bereitstellt. Was konkrete Interventionen nicht ausschloss. Etwa mit der Nummer 31 im Winter 1995, in der Susan Sontag und Jean Baudrillard, aber auch Direktbetroffene eine «Hommage à Sarajewo» schrieben, als die Stadt noch unter bosnisch-serbischer Belagerung stand. Oder nach 2001 in der Auseinandersetzung mit Konzept, Realität und Instrumentalisierung des «Terrorismus». Dabei zeigten sich zuweilen Brüche zwischen dem, was von US-Seite propagandistisch als «neues» und «altes» Europa gegeneinander ausgespielt wurde.

Die Nummer 86 im Sommer 2009 betrieb für einmal etwas Nabelschau: «Berlin auf der Couch» hiess das Thema. Aber darin fand sich auch ein grosses Interview mit dem deutschen Politiker Thilo Sarrazin, in dem dieser seine rassistischen Ansichten ausbreitete. Da erhielt «Lettre» eher auf unerwünschte Art Aufmerksamkeit. Uneingeschränkt verdienstvoll ist es dagegen, dass sich die Zeitschrift in den letzten Jahren sehr stark China, aber auch wieder Russland gewidmet hat.

Unverwechselbar ist «Lettre» im Grossformat, das visuell grosszügig, aber nur schwer handhabbar ist – eine Geschmackssache. Dabei macht die grafische Gestaltung eine Stärke der Zeitschrift aus. Jedes Titelbild und weitere Seiten werden exklusiv von KünstlerInnen gestaltet. Das erste Titelblatt (siehe Abbildung) wurde von Jörg Immendorff geschaffen, später wirkten A. R. Penck (1988), Georg Baselitz (1989), Marina Abramovic (1993), Gerhard Richter (1996) und Ai Weiwei (2009) mit – die Jubiläumsnummer 100 hat der Schweizer Max Grüter gestaltet. Der Kaffeetischchic wird gelegentlich mit Originalgrafiken bedient.

Aus der Fülle auswählen

«Lettre» ist und bleibt vor allem ein Arsenal der Ideen. Sie dokumentiert eher, als dass sie provoziert. Auch Verschwommenes, Verblasenes, Geschmäcklerisches findet sich darin. Zuweilen wird die Vierteljahresschrift von der Aktualität überholt, jüngst etwa bei der Auseinandersetzung mit dem arabischen Raum. Aber vollständig lesen lässt sich das sowieso nicht. Als Leser pflückt man heraus, wählt aus einem breiten Angebot von Denk- und Umsetzungsarbeit aus.

Nach der Jubiläumsnummer ist mit Nummer 101 der Alltag weitergegangen. Robert Misrahi feiert darin die «Freude am Leben». Das Glück als Ziel eines guten Lebens: Das ist hübsch anregend, aber etwas gar luftig. Régis Debray, mittlerweile 73 Jahre alt und durch verschiedene politische und philosophische Mutationen hindurchgegangen, verteidigt das Abendland vor dem Untergang. Sein weit ausholender, eloquenter «Befund» zeigt Glanz und Elend eines kulturhistorischen und geopolitischen Ansatzes, dem die blendende Formulierung zuweilen mehr gilt als der treffende Gedanke. Zumeist aber wirft «Lettre» ein glänzendes Licht auf die eher düstere Kultur- und Medienlandschaft.

«Lettre International». Nummer 101. Berlin 2013. 140 Seiten. 23 Franken. www.lettre.de