Fünfzig Jahre Kompaktkassette: Vier Schrauben für ein Halleluja
Zwei Spulen Magnetband, vierzig Gramm Plastik drumherum: Eine Kompaktkassette sieht nicht nach viel aus. Und doch hat sie in den fünfzig Jahren ihres Bestehens Welten verändert. Happy Birthday!
Als die Kompaktkassette am 28. August 1963 von der niederländischen Firma Philips an der 23. Grossen Deutschen Funkausstellung in Berlin eingeführt wurde, war bei weitem nicht allen bewusst, was für ein Potenzial sie barg. Klar waren die kompakt in 82 Kubikzentimeter Plastik verpackten 170 Meter Tonband eine Sensation: Im Vergleich zu den umständlichen und teuren Spulentonbändern war die Kassette klein, leicht, robust, billig und überaus einfach zu handhaben. Aber dass sie die Tonaufnahme demokratisieren, einen den passiven Musikkonsum überwinden lassen und sogar die Produktionsmittel verschieben könnte, hätte wohl niemand gedacht.
Nur schon, dass sich die Kompaktkassette bis weit in die neunziger Jahre hinein zum beliebtesten Leermedium zur Aufnahme von Musik entwickeln sollte, war alles andere als gegeben. Denn die Konkurrenz schlief keineswegs. Am hartnäckigsten hielt sich die 1965 in den USA eingeführte 8-Spur-Kassette, auch wenn sie dem Format von Philips technisch unterlegen war. Mit ihr liess sich weder spulen noch aufnehmen. Aber sie vermochte sich vor allem in Autoradios zu etablieren – dank des Marketinggespürs ihres Erfinders William P. Lear, der das Format gemeinsam mit der Ford Motor Company zur Marktreife entwickelte. Die daraufhin serienmässig in Ford-Modelle eingebauten 8-Spur-Geräte generierten Nachfrage und befriedigten sie gleichzeitig. Zum Verhängnis wurde dem Automobilhersteller die verbesserte Lärmisolation in seinen Wagen. Sie machte die ärmliche Klangqualität der 8-Spur-Kassette deutlich.
Aufstieg und Fall
Qualität allein war indes nicht entscheidend dafür, dass sich die Kompaktkassette langfristig durchsetzte. Sondern die Strategie von Philips, die Herstellung der Kompaktkassette entgegen der damals üblichen Praxis nicht exklusiv als proprietäres Format zu betreiben. Indem Philips kostenfreie Herstellerlizenzen an bereits etablierte Produzenten wie Sony oder Matsushita vergab, lancierte der niederländische Konzern die Kompaktkassette als Standardformat in zentralen Märkten wie Japan, zu denen er selbst keinen Zugang hatte.
Gleichzeitig schuf Philips mit dem Monopolverzicht ein Innovationspotenzial, das letztlich ausschlaggebend gewesen sein dürfte für den nachhaltigen Erfolg der Kompaktkassette. In knapp fünfzehn Jahren mauserte sie sich zum High-Fidelity-Produkt, das mit einer Bandbreite von 200 Hertz bis 20 Kilohertz fast den ganzen vom menschlichen Gehör wahrnehmbaren Frequenzbereich abdeckte. So vermochte sich die Kompaktkassette neben der Vinyl-LP auch als qualitativ hochstehender bereits bespielter Tonträger zu positionieren.
Mit der Ankunft der CD 1982, die punkto Auflösung, Bandbreite und Rauschen anderen Medien weit überlegen war, änderten sich die Verhältnisse dramatisch. Bereits 1987 überholten in der Schweiz die CD-Verkäufe jene der vorab bespielten Tapes. Margrit Kühne kennt als Kassettenverantwortliche des Audiomedienherstellers Adivan in Schwyz die Zahlen aus erster Hand: «Vor allem in den späten neunziger Jahren ging es mit den Kassetten mehr und mehr bergab. Im Rock/Pop-Bereich brachen die Umsatzzahlen innert zwei, drei Jahren auf zirka fünfzig Prozent ein.»
Den Gnadenstoss erhielt die Kompaktkassette, als CD-Brenner erschwinglich wurden. Denn das bedeutete auch das Ende der Kassette als bevorzugtes Leermedium. Gemäss Statistik des Bundesverbands der Musikindustrie Deutschlands wurden schon 1999 doppelt so viele CDs als Leermedium eingesetzt, und nur fünf Jahre später betrug das Verhältnis 45 zu 1.
Doch ganz totzukriegen ist die Kassette nicht. Als Retrochic ziert sie Smartphonehüllen oder Schultertaschen. Aber auch ihre Kerneigenschaften und ihr nostalgisches Potenzial sorgen dafür, dass sie weiterlebt. Zum Beispiel bei Reto Vogler, der in Baden das Kassettenlabel Riversound betreibt. Er sieht im Klang und im Erscheinungsbild der Kassette, aber auch in ihrer Funktion als Erinnerungsträgerin Gründe dafür, heute noch zum Tape zu greifen. «Auch 2013 sind Kassetten wegen ihrer Robustheit oft die ersten Tonträger, die Kleinkinder bekommen. Und wer weiss, die Kleinkinder von heute sind auch einmal fünfzig, vielleicht hauchen sie dann der Kassette aus Nostalgie wieder neues Leben ein.»
Tatsächlich sind Kindermärchen und Hörspiele gemäss Produzentin Margrit Kühne das Marktsegment, das noch am meisten zur Kassette steht. Aber auch hier ist die Produktion auf zwischen zehn und fünfzehn Prozent des früheren Volumens geschrumpft. Und Musikaufnahmen auf Tapes sind – zumindest in der industrialisierten Welt – seit der Jahrtausendwende vollends zum Nischenprodukt geworden.
Das kann auch Agustina Vizcarra bestätigen, die in Buenos Aires bei Distroi Art und Abrazo Ediciones seit fünf Jahren Musik von Hardcore- und Post-Rock-Bands auf Kassette herausgibt. Sie bezeichnet die argentinische Kassettenkulturszene als in sich geschlossenen Tauschkreis. «Wir verlieren Geld mit jedem Tape, also würde ich es nicht als Markt bezeichnen.» Ihre Freude an der Kassette schmälert das nicht. «Unterschiedliche Tonträger transportieren und provozieren unterschiedliche Erfahrungen: Die Musikkassette musst du zurückspulen, wenden, du hörst das markante Klicken am Ende, dann herrscht totale Stille», sagt sie. «So verschmelzen Handlungen, Ruhe, Bewegung und Musik zu einer mehrschichtigen Erfahrung. Der Zugang zur Musik auf Kassette ist einzigartig, in ästhetischer wie auch in emotionaler Hinsicht.»
Schlüssel zur Selbstermächtigung
Die Kompaktkassette war immer mehr als ein passiver Tonträger. Selbst wer sie nur abspielte, schrieb sich und seine soziokulturellen Praktiken in die Kassette ein. Das stundenlange Hören desselben Stücks leierte das Band aus und markierte den Aneignungsgrad des Songs für das Ich der Zeit. Deshalb funktioniert die Kassette bis heute so gut als Projektionsfläche für Nostalgie, da sie nicht nur Musik, sondern immer auch Spuren des Selbst enthält, die beim Spielen reproduziert und so weiter eingeschrieben werden.
Wer Kassetten selbst bespielte, konnte noch weiter gehen und erfahren, dass die technisch einfache Aufnahme nichts weniger als die Demokratisierung der kuratorischen Freiheit bedeutete: Vormals zu reinen KonsumentInnen degradierte MusikliebhaberInnen konnten nun dank der Kompaktkassette aktiv werden und direkt in die Soundtracks ihres Lebens eingreifen, sie mitkonzipieren und mitgestalten.
Marxistisch formuliert ist das ein geradezu revolutionärer Akt der Eroberung von Produktionsmitteln. Die Musikkassette ermöglichte eine nie dagewesene Unabhängigkeit von der vom Studiosystem geprägten Musikindustrie. Die Kassette brachte das Vervielfältigungsmonopol ins Wanken – ab 1979 konnte dank der Erfindung des 4-Spur-Aufnahmegeräts auch selbst in akzeptabler Qualität auf Tapes aufgenommen und abgemischt werden. Statt sich in die Abhängigkeit von grossen Plattenlabels zu begeben und mit Vorschüssen teure Tonstudios zu bezahlen, konnten sich MusikerInnen so ohne grosse Mittel auf ihr kreatives Kerngeschäft konzentrieren und gewannen darüber hinaus auch mehr Raum für Experimente.
Das selbstermächtigende Potenzial, das in der Kassette schlummert, ist wirkungsgeschichtlich sicher ihr grösster Trumpf. Und es bestätigt die Ansicht des französischen Wissenschaftssoziologen Bruno Latour, der in technischen Apparaten ebenbürtige handlungsmächtige Akteure für soziale Prozesse und Praktiken ortet.
Beweise dafür gibt es im Privaten wie im Politischen. Für Ersteres stehen die höchst individuell für das Herzblatt aufgenommenen Liebesmixtapes. Sie schufen oder reproduzierten einen emotionalen Raum, der im besten Fall eine Beziehung flocht und bestärkte oder – im weniger günstigen Fall – eine Inkompatibilität markierte.
Im politischen Bereich trug das schmuggelfreundliche Format der Kassette zur Propaganda bei, zum Beispiel bei den nicaraguanischen RebellInnen der Sandinistischen Befreiungsbewegung FSLN. Sie überspielten neben revolutionären Liedern und Reden sogar Anleitungen zur Herstellung von Bomben auf Kompaktkassetten und liessen die Tapes unter dem Titel «Guitarra Armada» zirkulieren. Damit trug die Kassette nicht nur zur inhaltlichen Gegeninformation der oft analphabetischen Landbevölkerung bei, sondern prägte auch die revolutionäre Praxis mit.
Unter dem Titel «mixtape» begeben sich ab Freitag, 13. September 2013, Annette Kuhn, Markus Keller und Uwe Schuran im Vorstadttheater im Eisenwerk in Frauenfeld in einer szenisch-musikalischen Performance auf die Suche nach dem Soundtrack des Lebens. Tickets gibts unter tourismus@regiofrauenfeld.ch oder Tel. 052 721 99 26. www.eisenwerk.ch