Jeffrey Lewis: Songs von alltäglichen Verwerfungen

Nr. 36 –

Akustische Balladen mit Biss, Witz und Weisheit: Das schafft der New Yorker Liedermacher Jeffrey Lewis. Kaum bekannt ist sein Doppelleben als Comicautor.

Jarvis Cocker, Leader der Band Pulp, hält ihn für «den besten Liedtexter im heutigen Amerika», und Will Oldham alias Bonnie «Prince» Billy geizt ebenfalls nicht mit Lob: «Es gibt nicht viele, die mit Musik eine Geschichte so erzählen und so mit Sprache umgehen können wie Jeffrey Lewis. Er ist einfach toll, eindrucksvoll, inspirierend und aufregend.» Vor fünfzehn Jahren begann Lewis, der heute 37-jährige New Yorker, neben Adam Green und Kimya Dawson unter dem Banner des «Anti-Folk» im Sidewalk Cafe in Downtown Manhattan mit eigenen Songs aufzutreten. Inzwischen gilt er als einer der originellsten Liedermacher der alternativen Rockszene.

Von Punk zu Folk

Seit Jeffrey Lewis 2001 beim legendären Independentlabel Rough Trade unterkam, zeigt die Erfolgskurve nach oben. Bei der Londoner Firma hat er inzwischen sechs Alben veröffentlicht, darunter eine Platte, die ausschliesslich Lieder der anarchistischen englischen Punkband Crass enthält. Lewis hat die «12 Crass Songs» zu akustischen Folkballaden mit farbigen Arrangements umgeschneidert, ohne ihnen ihren inhaltlichen Biss zu nehmen – im Gegenteil: «Crass spielten die Songs so schnell und laut, dass die Texte untergingen. Ich singe die Lieder dagegen langsam, damit sie jeder versteht.»

Im Unterschied zu den Crass-Songs kommen Jeffrey Lewis’ eigene Lieder nicht so aggressiv-politisch daher, wenn man von seinem Solidaritätslied «What Would Pussy Riot Do?» einmal absieht. Mit seinen Versen beschreibt Lewis eher Erlebnisse aus seiner unmittelbaren Umgebung, die als symptomatisch für die gesellschaftlichen Verwerfungen gelten können, denen man fast täglich begegnet. Lewis gelingen dabei poetische Zeilen, die eine genaue Beschreibung der Gegenwart liefern und dennoch voller Witz und Weisheit sind.

Lewis ist mit Punk und Indie-Rock gross geworden. Als wichtigen Einfluss nennt er Sonic Youth. Seine Bewunderung reicht so weit, dass er unter dem Namen Sonnet Youth begonnen hat, das komplette Songbook der New Yorker Indie-Band in Sonettform umzudichten, die er in kleinen fotokopierten Heftchen vertreibt.

Folk ist eine andere Inspirationsquelle, wobei Lewis’ Helden Woody Guthrie, Bob Dylan und The Holy Modal Rounders heissen. Zwischen Punk und Folk ist denn auch Jeffrey Lewis’ Musik angesiedelt, in der sowohl die Nachdenklichkeit und Harmonieseligkeit des Folk als auch der Furor von Punk und Grunge rumoren. Seine Akustikgitarre versinnbildlicht diese Karambolage gegensätzlicher Stile. Auf Knopfdruck verwandelt sich die verschrammte, bunt bemalte Klampfe mittels Wah-Wah-Pedal und Verzerrer in ein kreischendes Monster.

Brüder im Geist

Lewis ist auf der Lower East Side in Downtown Manhattan aufgewachsen und fühlt sich der langen Tradition alternativer Klänge in diesem Stadtteil verbunden. Im Titel «A Complete History of Punk of the Lower East Side from 1950–1975» kommt diese Affinität zum Ausdruck. Da tauchen sie alle auf: Harry Smith, Herausgeber der bahnbrechenden LP-Serie «Anthology of American Folk Music», Velvet Underground und The Fugs. Dazu: Patti Smith, die New York Dolls sowie die Ramones. Lewis feiert diese KünstlerInnen als visionäre PionierInnen der US-Subkultur, die ihm und anderen den Weg bereiteten.

Mit Tuli Kupferberg (1923–2010) von der dadaistischen Politband The Fugs verband Lewis eine enge Freundschaft. Der junge Musiker besuchte den anarchistischen Beatlyriker noch im hohen Alter regelmässig. «Tuli wohnte gleich um die Ecke», erzählt er. «Wir redeten, tauschten Meinungen aus, und manchmal habe ich ihm einen neuen Song vorgetragen.»

Peter Stampfel ist ein anderer Bruder im Geist. Mit dem Veteran, der 1964 mit den Holy Modal Rounders den psychedelischen Folk erfand, hat Lewis vor ein paar Jahren eine Band gegründet. «Wenn möglich treffen wir uns sonntags zum Liederschreiben in Stampfels Loft in SoHo», berichtet Lewis. Zwei Alben sind aus der Kooperation bereits hervorgegangen.

Ein Faible für Comics verbindet die beiden. Einmal in der Woche geht es zum Kiosk, um einen Stapel Neuerscheinungen zu erwerben. Doch ist Jeffrey Lewis nicht nur ein fanatischer Leser, er entwirft auch eigene Bildergeschichten. In seiner «Fuff»-Serie sind bisher sieben Hefte erschienen, die er an Konzertauftritten und auf Comicmessen verkauft.

Die Comics tauchen in überdimensionalem Format bei seinen Liveauftritten wieder auf. Seite um Seite blättert Lewis dann die «Lo-Fi Videos» durch, um anstatt der Sprechblasen witzige Verse zu rezitieren. Dabei schreckt er nicht vor grossen Themen zurück. Mit ein paar pfiffigen Reimen und prägnanten Strichzeichnungen wird etwa «The Fall of the Soviet Union» in drei Minuten dargestellt. Unterhaltsamer kann Geschichtsunterricht nicht sein.

Jeffrey Lewis & The Rain spielen am 8. September 2013 um 20.20 Uhr im Zürcher «El Lokal». Reservation unter www.ellokal.ch.