Meinungsmache: Wichtig bleibt das Geld

Nr. 42 –

Musik ist im Internet jederzeit und sofort verfügbar. Ohne Promo- und Konzertagenturen geht aber weiterhin nichts – die Einschätzung dreier Schweizer BranchenvertreterInnen.

An Sonntagnachmittagen lagen mein kleiner Bruder und ich auf dem Holzboden vor unserer Stereoanlage. Es lief die Hitparade auf DRS 3. Ich gab Befehle, und mein Bruder drückte auf den Aufnahme- oder Stoppknopf des Kassettendecks. Das war vor zwanzig Jahren.

Etwas später ging ich in meiner Heimatstadt Schaffhausen in den einzigen Plattenladen, der Punkrock im Angebot hatte. Sorgfältig las ich Booklets von CDs, die ich bereits kannte. Welche Bands und Labels standen auf der Dankesliste? Daraufhin ging ich zum Plattenhändler mit den langen Haaren und der grossen Nase, und er bestellte für mich.

Kassettendecks, Plattenläden und Dankeslisten in Booklets sind zwar nicht ausgestorben, aber um neue Musik zu entdecken, braucht es sie nicht mehr. Durch das Internet ist Musik längst überall und jederzeit verfügbar geworden. Ohne Vorselektion wird diese Verfügbarkeit zur reinsten Überforderung. Vor diesem Hintergrund stellen sich Fragen: Wer bestimmt und prägt die Selektion, wer ist meinungsbildend? Wie und wo werden heute die Musiktrends und -hypes produziert, und wie werden sie verbreitet? Drei Schweizer ExpertInnen aus der Rock- und Indiebranche antworten.

Meinungsmacherfestivals

«Trotz Internet: Ich informiere mich meistens im persönlichen Austausch», sagt Tanya Gavrancic von der Promoagentur Siren Agency in Baden. Zunehmend wichtig geworden sind sogenannte Showcase-Festivals wie das Great Escape in Brighton oder das Eurosonic im holländischen Groningen, wo alle AkteurInnen der Musikbranche zusammenkommen – Bands, Labels, Promo- und Bookingagenturen, Konzertveranstalter –, um sich auszutauschen. «Wer in Brighton spielt, hat gute Chancen, im nächsten Jahr in Europa wahrgenommen zu werden. Es ist eine Art Gütesiegel», sagt Gavrancic. Auch in Deutschland habe es solche «Meinungsmacherfestivals», zum Beispiel das Reeperbahn-Festival in Hamburg. In der Schweiz übernimmt das M4Music in Zürich diese Rolle.

Wichtig bleiben weiterhin die Musikzeitschriften. Deutschsprachige Magazine wie «Visions», «Spex» oder «Musikexpress», mehr aber noch englischsprachige Titel wie «Mojo», «Kerrang», «Wire», «Rolling Stone» oder «Alternative Press». Der grosse Einfluss von britischen und US-amerikanischen AkteurInnen zeigt sich auch bei den Blogs. An pitchfork.com scheint niemand vorbeizukommen, weiter werden der Videoblog theneedledrop.com (kann ich sehr empfehlen), stereogum.com oder hypem.com genannt.

In der Schweiz sind 78s.ch oder indie.ch wichtige Informationsquellen im Netz. «Sonst ist ‹20 Minuten› mit Abstand das wichtigste klassische Medium für Musik in der Schweiz», sagt Martin Schrader, der heute für die Zürcher Konzertagentur Mainland Music tätig ist. Davor hat er hier den bekannten Rockclub Abart geführt – bis dieser einer Luxusüberbauung weichen musste. Schrader hebt hervor, dass gerade für die Hypes noch etwas mehr als Publizität entscheidend sei: die Geografie. «Hypes entstehen in Zentren, wo eine genügend grosse Ballung an Bands und Medien vorhanden ist. In der Schweiz ist das nicht der Fall. Für uns ist deshalb wichtig, was in Berlin, London, New York und Los Angeles passiert.» Für den Durchbruch in den Mainstream brauche es aber noch immer Radiosingles und am besten einen Song in einer europaweiten oder gar globalen Werbekampagne.

Das Internet hat in Bezug auf die Wahrnehmung von Musik die Wege und die Geschwindigkeiten grundlegend verändert. Unverändert gilt: «Geld bleibt wichtig, um eine Band gross rauszubringen», sagt Frank Lenggenhager von der Berner Promoagentur Lautstark. «Es sind nach wie vor die mächtigen Player der Musikindustrie, die die Wahrnehmung bestimmen.» NutzerInnen hätten auf dem Internet aber mehr Möglichkeiten als früher, sich selbst eine Meinung zu bilden. «Eine Demokratisierung im Bereich der Meinungsmache ist aber nicht eingetreten.»

Was bedeuten diese Entwicklungen also für (Schweizer) Bands? «Der Aufbau in der Schweiz ist hart und langwierig. Eine Band braucht einen ziemlich langen Atem», bilanziert Tanya Gavrancic. Den gradlinigen Weg zum Erfolg gibt es nicht: «Fängt er mit der Produzentenwahl an? Dem Studio? Oder liegt es am Label, an der Promo oder dem Vertrieb? Könnte es auch daran liegen, wie oft eine Band im ‹20 Minuten› erwähnt wird oder wie oft sie beim Musikfernsehsender Joiz auftritt? Es ist ein Zusammenspiel aus all dem Genannten», so Gavranovic.

GrafikerInnen in die Bands

Dieses Zusammenspiel müsse mit einer guten Internetstrategie ergänzt werden, sagt Martin Schrader: «Heute gehört sehr viel mehr Grafik zu einer Band als früher. Das Netz ist visuell. Früher genügten Bandfotos, ergänzt durch Fotos und Filme von Livekonzerten. Heute müssen sie den Fans – möglichst täglich – Videos, Clips, Fotos et cetera liefern.» Er rate deshalb jungen Bands eigentlich immer, den Grafiklehrling oder den Photoshop-Crack aus dem Freundeskreis als zusätzliches Bandmitglied aufzunehmen. «Ist erst mal eine gute Webstrategie da, folgen die Plattformen, auf denen man sie verbreitet. Ist man da erfolgreich, springen auch die klassischen Medien auf», so Schrader.