Mexiko: Bürgerwehren, Tempelritter und klassische Kartelle

Nr. 4 –

Warum Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto bewaffnete Selbstverteidigungsgruppen nicht dulden kann.

Was steckt wirklich hinter den Bürgerwehren? Angehörige der «autodefensas de Michoacán» in Nueva Italia. Foto: Philipp Lichterbeck

Auf den ersten Blick scheint das Szenario des mexikanischen Drogenkriegs immer absurder zu werden: Statt die grossen Kartelle zu bekämpfen, schickt Präsident Enrique Peña Nieto die Armee und die paramilitärische Bundespolizei ausgerechnet gegen jene ins Feld, die sich gegen diese Mafias wehren. Sogenannte Selbstverteidigungsgruppen – angeblich aus braven Bürgern zusammengestellte Milizen – sollen entwaffnet werden. Gut dreissig Gemeinden im westlichen Bundesstaat Michoacán haben diese «autodefensas» dem Griff des örtlichen Kartells der Tempelritter entwunden.

Doch so absurd, wie es aussieht, ist es nicht. Zum einen geht der von Peña Nietos konservativem Amtsvorgänger Felipe Calderón ausgerufene Krieg gegen die Kartelle in unverminderter Heftigkeit weiter. Die Zahl von rund 10 000 Toten in jedem der vergangenen Jahre ist auch im ersten Amtsjahr von Peña Nieto nur unmerklich gesunken. Der Präsident ist nur ein bisschen stiller zu diesem Thema und begleitet das Gemetzel nicht wie sein Vorgänger mit einer Propagandaschlacht. Das mag den Eindruck erwecken, er sei weniger engagiert.

Zum anderen ist unklar, wer hinter den Bürgerwehren steckt. Sie patrouillieren auf neuen Pick-ups mit abgedunkelten Scheiben, haben Sturmgewehre umgehängt und ein paar weitere Patronenmagazine im Gürtel stecken. Besonders beliebt ist die Kalaschnikow AK-47. Brave BürgerInnen haben solche Kriegswaffen kaum im Schrank, allenfalls eine Flinte für die Jagd. Das ist Ausrüstung und Stil der Drogenmafias. Da liegt der Verdacht nahe, die Autodefensas seien nicht mehr als die Tarnkappe eines anderen Kartells, das den Tempelrittern Gebiete abjagen will.

Die erste dieser angeblichen Bürgerwehren ist im September 2011 in Veracruz im Osten von Mexiko aufgetreten und nannte sich Matazetas – die Mörder der Zetas. Innerhalb weniger Tage hat diese Gruppe ein paar Dutzend angebliche Mitglieder des Kartells der Zetas gefangen, gefoltert und ermordet und dann ihre Leichen öffentlich zur Schau gestellt. Kurz darauf stellte sich heraus, dass diese Matazetas keine «guten Mexikaner» waren (wie sie in einer Videobotschaft behauptet hatten), sondern eine Unterabteilung des Sinaloa-Kartells. Die sollte die für den Drogenschmuggel wichtige karibische Hafenstadt zurückerobern.

Zuvor freilich klang die Behauptung der «Selbstverteidigung» glaubwürdig. Die Zetas sind die Ersten einer neuen, ganz besonders blutrünstigen Generation von Kartellen. Sie wurden von desertierten Elitesoldaten der mexikanischen und guatemaltekischen Armee aufgebaut, zunächst als bewaffneter Arm des Golfkartells. Doch sie wollten nicht nur Pistoleros sein, sondern selbst ein grosses Stück vom Geldkuchen des Drogengeschäfts abhaben. 2010 machten sie sich selbstständig. Doch da war der Kuchen längst verteilt. Zudem ist es nicht ganz einfach, sich in diesem Geschäft zu behaupten. Der Chef eines grossen Kartells braucht dieselben Fähigkeiten wie der Manager eines internationalen Konzerns. Er muss weltweit Rohstoffe, Zulieferer und Produzentinnen, Transportwege und Vertriebsnetze koordinieren und – was erschwerend hinzukommt – alles in der Illegalität. Die Zetas kamen nur schwer in dieses komplexe Geschäft und weiteten ihre Aktivitäten deshalb auch auf einfachere kriminelle Machenschaften aus: Schutzgelderpressung, Entführungen, illegales Glücksspiel, Zwangsprostitution und Menschenhandel.

Klassische Drogenbarone lehnen solches Gebaren ab, da die Bevölkerung zu fest darunter leidet. Sie brauchen Ruhe in ihrem Revier und legen deshalb Wert auf ein gutes Verhältnis zu den Einheimischen. Sie ziehen nur in den Krieg gegen Konkurrenzkartelle, um ihnen Routen und Märkte abzujagen – oder gegen den Staat, wenn der sie direkt angreift.

Die Zetas hatten mit ihren rabiaten Methoden den Bundesstaat Michoacán unter ihre Kontrolle gebracht. Das hat die örtlichen DrogenproduzentInnen aufgebracht. Die BesitzerInnen von Marihuanaplantagen und Laboren für Amphetamine schlossen sich unter der Führung des charismatischen Nazario Moreno zur Familia Michoacana zusammen. Die zog mit einer kruden Mischung aus Christentum, Lokalpatriotismus und Gewalt in den Krieg gegen die Zetas und fand zunächst grosse Unterstützung in der Bevölkerung. Nachdem Moreno Ende 2010 bei einer Schiesserei mit der Polizei getötet worden war, gingen aus seiner Familia Michoacana die Tempelritter hervor. Die haben zwar die Zetas verjagt, aber auch deren kriminellen Gemischtwarenladen übernommen und quälen heute die Bevölkerung mit denselben Methoden.

Es ist nicht bewiesen, dass das die Pazifikregion beherrschende Sinaloa-Kartell mit der Hilfe ihrer HandlangerInnen vom Ablegerkartell Nueva Generación Jalisco den Tempelrittern das Gebiet von Michoacán mit seiner Hafenstadt Lázaro Cárdenas abnehmen will. Es ist allerdings naheliegend. Allianzen mit Einheimischen in Bürgerwehren sind dabei nicht auszuschliessen. Der Bevölkerung ist ein klassisches Kartell als Schutzherr allemal lieber als eine sie drangsalierende Bande von Mördern und Erpresserinnen. In den Staat hat ohnehin niemand mehr Vertrauen. Peña Nieto muss also einschreiten. Andernfalls wäre die Schlacht um Michoacán für den Staat von vornherein verloren. Wenn er ein glaubwürdiger Präsident sein will, muss er die Bürgerwehren entwaffnen – und dann die Tempelritter stellen.