Naher Osten: Fallende Grenzen, gescheiterte Staaten
In den aktuellen Konflikten im Nahen Osten sind die Landesgrenzen irrelevant geworden. Die Staaten, wie sie Anfang des letzten Jahrhunderts definiert wurden, lösen sich auf. Eine Neueinteilung entlang der Konfessionen kann nicht die Lösung sein.
Wenn wir eine aktuelle Landkarte des Nahen Ostens vor uns ausbreiten, finden wir darauf ein farbiges Mosaik von eigentlich souveränen Staaten: Türkei, Syrien, Irak, Libanon, Jordanien und viele mehr. Mit dicken Strichen haben europäische Diplomaten während des Ersten Weltkriegs diese Grenzen gezeichnet und so die Überreste des untergehenden Osmanischen Reichs aufgeteilt.
Doch die vor uns liegende Karte täuscht: Viele Grenzen sind durch die wiederholten Konflikte und Aufstände in den einzelnen Ländern porös geworden oder haben sich gar aufgelöst. Deutlich wird dies etwa, wenn wir einen Blick auf die gewalttätigen Vorkommnisse der letzten Wochen werfen.
Isil in der Offensive
Die al-Kaida nahestehende Rebellenorganisation Islamischer Staat im Irak und in der Levante (Isil) kämpft seit Anfang dieses Jahres in Syrien gegen eine Koalition von zumeist islamistischen Rebellen. Nach anfänglichen Geländegewinnen wurde sie inzwischen in Idlib und Aleppo zurückgedrängt, ihre Besetzung von al-Rakka konnte sie jedoch aufrechterhalten. In den ersten vierzehn Tagen der Kämpfe zwischen den beiden regierungsfeindlichen Lagern sind bereits über tausend Menschen getötet worden.
Auch im Irak, in der westlichen Provinz Anbar, hatte Isil eine Grossoffensive gestartet, um Städte wie Ramadi und Falludscha einzunehmen. In den letzten Jahren war die Organisation auf ein limitiertes Gebiet in westlichen Wüstenregionen des Irak zurückgebunden gewesen. Der Syrienkonflikt sowie Machtkämpfe unter den Eliten im Irak haben ihr jedoch neues Leben eingehaucht. Für Isil, die ungestört Kämpfer und Waffen durch die irakisch-syrische Wüste schmuggelt, existiert die Landesgrenze nicht mehr.
Schon vor Jahrzehnten hat sich faktisch die libanesisch-syrische Grenze aufgelöst. Angeblich um den Bürgerkrieg zu stoppen, marschierte 1976 die syrische Armee ins kleine Nachbarland Libanon ein. Doch auch nach dem Ende des Kriegs im Jahr 1989 und dem Ende der israelischen Besetzung des Südlibanon im Jahr 2000 blieben syrische Truppen im Land. Erst im April 2005 mussten sie abziehen. Ein Attentat auf den früheren Ministerpräsidenten Rafik Hariri löste antisyrische Massendemonstrationen im Libanon und Drohungen des Westens aus.
Seit einem Jahr ist nun eine umgekehrte Invasion zu beobachten – und wieder scheint die Landesgrenze irrelevant zu sein: Tausende von Hisbollah-Kämpfern ziehen nach Syrien, um das Regime von Baschar al-Assad zu verteidigen. Gleichzeitig jedoch operieren auch syrische Rebellen im Libanon: In den ersten drei Wochen des neuen Jahres haben sie bereits drei Bombenanschläge verübt. Zweimal traf es die Beiruter Vorstadt Haret Hreik, in der die Hisbollah ihr Hauptquartier unterhält, einmal die Hisbollah-Hochburg Hermel im Norden des Landes. Insgesamt kamen bei den Anschlägen zwölf Menschen ums Leben, über hundert wurden verletzt. Zu den Anschlägen bekannte sich in zwei Fällen die Al-Nusra-Front und in einem Fall die Isil. Wird der Libanon zu einem Schlachtfeld zwischen sunnitischen und schiitischen Dschihadisten?
Ankara scheints egal zu sein
Von der türkischen Grenze wird gemeinhin angenommen, sie sei unter Kontrolle des Staates. Doch der Syrienkonflikt hat das türkisch-syrische Grenzgebiet in eine unerklärte Kriegszone verwandelt. Kämpfer passieren die Grenze genauso wie Waffen – ohne nennenswerte Intervention der türkischen Autoritäten. Tausende von Dschihadisten etwa aus Libyen und Tunesien, Belgien und Grossbritannien sind so nach Syrien gereist.
Ankara scheint das nicht sonderlich zu stören. Was dem türkischen Staat jedoch wirkliche Probleme bereitet, ist, dass seit eineinhalb Jahren die der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nahestehende Partei der Demokratischen Union (PYD) die Kontrolle über viele kurdische Gebiete in Nordsyrien nahe der türkischen Grenze übernommen hat. Im monatelangen Kampf gegen verschiedene dschihadistische Gruppierungen hat sich der militärische Arm der PYD als ernst zu nehmende Kraft etabliert. Ähnlich der Autonomen Kurdischen Region im Norden des Irak ist ein neues kurdisches Autonomiegebiet im Norden Syriens entstanden (vgl. «Frauenquoten in Nordsyrien» ). Doch auf den offiziellen Karten finden wir auch diesen neuen kurdischen Staatskörper nicht.
Die drei Hauptelemente eines funktionierenden Staates sind ein definiertes Territorium, das Gewaltmonopol und eine politische Herrschaft durch staatliche Autoritäten. Im Nahen Osten drohen diese Elemente zu verschwinden. Durchlässige Grenzen widerspiegeln so gescheiterte Staaten.
Das Scheitern begann im Libanon mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 1975. Dieser zerstörte die staatlichen Institutionen, ohne sie durch neue zu ersetzen. Der Libanon gründete auf dem osmanischen Millet-System, in dem die religiösen Organisationen die rechtlichen Belange ihrer Gemeinschaften – etwa bezüglich Heirat, Scheidung oder Vererbung – regelten. Zugleich fungierten sie als politische Repräsentanten der Gemeinschaften. Mit dem Zusammenbruch des libanesischen Staates blieben einzig diese religiösen Gemeinschaften als funktionierende politische Institutionen übrig. Einige von ihnen, allen voran die Hisbollah, bilden heute einen Staat im Staat.
Noch im letzten Jahrhundert war das libanesische System die Ausnahme. Arabischer Nationalismus prägte die Region. Heute sind libanesische Verhältnisse die Regel. Als am Neujahrstag Isil Falludscha angriff, sandte der irakische Premierminister Nuri al-Maliki zwar seine Armee vor die Tore der Stadt, überliess es aber den lokalen Stämmen, die islamistischen Kämpfer zu vertreiben. Maliki fürchtet, dass die Anwendung staatlicher Gewalt gegen die Dschihadisten sein schon schwieriges Verhältnis zu den sunnitischen Stammesführern der Provinz Anbar weiter beeinträchtigen könnte.
Viele viel zu einfache Erklärungen
Für das Scheitern der Staatlichkeit im Nahen Osten gibt es viele Erklärungen: Man kann «äussere Einflüsse» verantwortlich machen, etwa die US-amerikanische Invasion im Irak von 2003, die die Region zunehmend instabiler werden liess. Oder man kann die sich über Jahrzehnte erstreckenden Aggressionen Israels gegenüber dem Libanon beklagen, die letzten Endes die ExtremistInnen auf allen Seiten stärkten. Das Chaos und die Konflikte des Nahen Ostens werden auch oft vereinfacht mit dem Kampf zwischen «den Schiiten und den Sunniten» begründet. Die «New York Times» ihrerseits machte kürzlich ein «Machtvakuum» aus, das entstanden sei, weil die USA aus dem Nahen Osten abzogen, ohne einen «Vermittler» hinterlassen zu haben.
Alle diese Erklärungen reichen allerdings nicht aus, um das grundsätzliche Scheitern der politischen Institutionen der Region zu erfassen. Der Kern des Problems liegt in den politischen Systemen selbst, denen es an historischer Verankerung fehlt. Den Machthabern dieser Systeme ist es nicht gelungen, wirkliche Legitimität zu schaffen. Zu gross war und ist die Diskrepanz zwischen ihren proklamierten Ansprüchen und ihren politischen Handlungen.
So sieht sich die Arabische Republik Syrien gerne als Anführerin des Panarabismus und als Schutzmacht Palästinas. Doch seit Monaten belagern syrische Regierungstruppen das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk im Süden von Damaskus. Unter den verbliebenen rund 20 000 BewohnerInnen grassiert eine akute Hungersnot. Ähnliche Blockaden hat die syrische Armee gegen andere Stadtteile in Damaskus sowie in Homs errichtet, die von Rebellen kontrolliert werden. Solche Praktiken entleeren die ohnehin schon fragilen Begriffe wie «arabische Solidarität» oder «syrische Nationalidentität» vollständig ihrer Bedeutung.
Neue Grenzen?
In der politischen Diskussion tauchen wiederholt Prognosen auf, wie sich die Grenzen im Nahen Osten in Zukunft verschieben könnten. Doch die Logik vieler solcher Unterteilungen basiert auf religiös-konfessionellen Ideen. Staatengebilde wie ein «sunnitischer Irak» oder ein «arabisch-schiitischer Staat» auf dem Gebiet des heutigen Irak und Teilen Saudi-Arabiens oder ein «Grosslibanon» an der Mittelmeerküste, in denen die Minderheiten des Nahen Ostens leben würden, sind diesen Gedankengängen geschuldet. Doch eine Unterteilung nach Konfessionen ist keine Lösung. Ansonsten würde der faktisch geteilte Libanon längst als Musterbeispiel arabischer Staatlichkeit gelten – sozusagen als die Schweiz des Orients. Doch das ist er keineswegs.
Was bringt Genf?
Niemand setzt viel Hoffnung in die Friedenskonferenz zu Syrien, die am Freitag in Genf in die Verhandlungsphase tritt. Doch DiplomatInnen sehen keine andere Chance für eine Eindämmung des Konflikts, der bisher über 130 000 Tote gefordert hat.
Ob die anwesenden OppositionsvertreterInnen eine Übergangsregierung unterstützen würden, in der das Regime von Baschar al-Assad eine Rolle spielt, ist zweifelhaft – vor allem, seit ein Expertenbericht die systematische Tötung und Folterung von mindestens 11 000 Gefangenen des Regimes dokumentiert hat.
Allenfalls kann die Genfer Konferenz mehr humanitäre Hilfe ermöglichen und im Idealfall einen Waffenstillstand zwischen den Verhandlungsparteien auf den Weg bringen. An den sich die verschiedenen Dschihadistengruppen jedoch kaum halten würden.