Wichtig zu wissen: Stosszeit ist immer
Die Abschaffung der ersten Klasse.
Die Tessiner Studenten- und Lehrlingsgewerkschaft Sisa und die grüne Nationalrätin Aline Trede fordern die SBB auf, in Stosszeiten die erste Klasse abzuschaffen. Die zweite Klasse sei jeweils voll und die erste Klasse leer.
Doch wann ist Stosszeit?
Für die BefürworterInnen der SVP-«Masseneinwanderungsinitiative» ist immer Stosszeit. Tagsüber sowieso, auch in der Nacht, wenn in unseren Gärten die Tunesier Schlange stehen für Einbrüche. Physiker wie Stephen Hawking würden das etwas weniger einfach sehen und erst nach jahrelanger Berechnung eine Antwort liefern, die aber ebenso verworren wäre. Die Stosszeit könnte also von etwa 6.30 bis 8.30 Uhr sein. Und zwischen 17 und 19 Uhr.
Dumm ist, wenn am Ende der Stosszeit dann alle von der ersten in die schon verstopfte zweite Klasse drängen, um einer Busse zu entgehen.
Wie eine solche Stosszeitschliessung organisatorisch ablaufen soll, ist also völlig unklar. Vielleicht ist es allerdings gar nicht viel unmöglicher als die dringend nötige Schliessung aller Stellwerke wegen der ewigen Stellwerkstörungen oder die lang ersehnte Abschaffung der Lokomotiven wegen der Lokomotivpannen.
Die SBB schafften schon viel ab, und es hat dem Unternehmen nicht geschadet: die Spanisch-Brötli-Bahn, überhaupt alle Dampflokomotiven und die dritte Klasse, die Wagen mit Fenster zum Öffnen, den legendären Roten Pfeil und den Trans-Europa-Express.
Alleine in den letzten Jahren wurden abgeschafft: die KondukteurInnen (beginnend ab 1985), die Speisewagen (immer wieder), die Raucherabteile (2008), die Ruheabteile in der zweiten Klasse (2009), der Billettverkauf im Zug (2013), die Minibar in den ICN-Zügen (2014). Trotz aller Abschaffungen fahren immer mehr Leute mit dem Zug.
Oder ist es gerade deshalb?
Steht also die Abschaffung der Sitze unmittelbar bevor? Noch gilt der Sitz als das beliebteste Objekt der Zugpassagiere.
Werden die Sitze entfernt, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen erster und zweiter Klasse, es könnte keinen Ersteklassepassagier mehr geben, der sich beschwert, wenn ZweitklässlerInnen mitfahren (die schliesslich weniger bezahlt haben). Der Boden in der ersten und der zweiten Klasse ist gleich hart.
Der Zürcher Verkehrsverbund konzipiert derzeit einstöckige S-Bahn-Züge mit viel mehr Steh- als Sitzplätzen und vielen Türen, wie eine U-Bahn in Paris oder New York, damit die Fahrgäste schneller zu- und aussteigen. Mit den Zügen soll mittelfristig auf dem bestehenden Netz eine schnelle Kern-S-Bahn im unmittelbaren Stadtzürcher Agglogebiet geschaffen werden, die nicht mehr tief ins Land hinausfährt. Das ist die Zukunft, die Schweiz ist schon seit Jahren eine Stadt. Die heutigen S-Bahn-Doppelstockzüge sind passagierstromtechnisch immer noch Regionalzug, einfach mit sehr vielen Plätzen.
Wenn Reiche immer reicher werden und die anderen immer ärmer (im Vorfeld des Wef sind wieder die neusten Zahlen verbreitet worden), dann braucht es irgendwann die erste Klasse gar nicht mehr. Eine Klasse für zwei, drei Kollegen zu betreiben, ist dann selbst den Neoliberalsten in der SBB-Führung zu unwirtschaftlich.
Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis die erste Klasse fällt.
Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur.