Demokratie: Freie Wahlen ohne Wahl
Die Demokratie verliert im Zeichen der Globalisierung zunehmend an Substanz. Echte politische Veränderungen zu bewirken, wird schwieriger. Zwar gibt es viele Protestbewegungen, doch droht ihnen die Vereinnahmung durch die Eliten.
Soll das jetzt eine Art Revolution gewesen sein? Drei Wochen nach der Absetzung des ukrainischen Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch zeigt sich immer deutlicher, dass das Land nach wie vor von einer relativ kleinen Elite kontrolliert wird. Einige Köpfe sind weg, dafür sind andere zurück. Von einer demokratischen Erneuerung, die sich viele der Protestierenden erhofft hatten, ist keine Spur zu sehen. Nach wie vor geben die OligarchInnen wirtschaftlich den Ton an, und zwei von ihnen werden sogar zu Gouverneuren ernannt. Das wirklich Neue an den neuen Machtverhältnissen scheint nur zu sein, dass jetzt auch einige Rechtsradikale aus dem Umfeld der Swoboda-Partei mitmischen dürfen.
Typisches Beispiel für den ukrainischen Figurentausch ist der neue Ministerpräsident Arseni Jazenjuk von der Vaterlandspartei. Noch nicht mal vierzig Jahre alt, kann er bereits auf eine lange politische Karriere zurückblicken: Der Mann wurde 2001 Wirtschaftsminister der Autonomen Republik Krim, war von 2003 bis 2005 Vizepräsident der Nationalbank, kurz Vizegouverneur von Odessa, schliesslich 2005 Wirtschaftsminister und danach im März 2007 einige Monate Aussenminister der Ukraine. Im Dezember 2007 wurde Jazenjuk Parlamentspräsident, und 2010 kandidierte er vergeblich für das Amt des Staatspräsidenten. Seine Partei hat er im Verlauf dieser Karriere mehrmals gewechselt. Inzwischen gilt Jazenjuk als Vertrauter von Julia Timoschenko. Die ehemalige Ministerpräsidentin war in den letzten zweieinhalb Jahren wegen Amtsmissbrauch inhaftiert. Jetzt ist sie wieder frei und will bei den kommenden Präsidentschaftswahlen antreten.
Die Situation in der Ukraine zeigt, dass der Sturz eines Machthabers allein kein System ändert. Protestbewegungen können von konkurrierenden Eliten okkupiert und für ihre Zwecke missbraucht werden. Auch in anderen Ländern würde wohl Ähnliches passieren wie jetzt in der Ukraine. In Venezuela etwa demonstrieren seit Wochen BürgerInnen gegen die angeblich korrupte Staatsführung und die wirtschaftliche Krise. Ein Sturz des Präsidenten Nicolás Maduro würde jedoch Leute an die Macht bringen, die die Sozialprogramme des Staates zum Verschwinden bringen und von der zaghaft eingeführten Basisdemokratie gar nichts halten. Die ärmere Bevölkerung des Landes hätte mehr Schaden als Nutzen.
Ob in der Ukraine mit dem Umsturz zumindest ein kleiner Schritt in Richtung mehr Demokratie gemacht wurde, ist fraglich. Denn kaum war Janukowitsch gestürzt, bot auch schon Christine Lagarde vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ihre Hilfe an. Schon einmal war der IWF zur Stelle. 2010 wurde der Ukraine ein Stützungskredit von über fünfzehn Milliarden US-Dollar gesprochen, um einen drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Im Gegenzug sollte das Land jedoch «einschneidende Massnahmen» beschliessen. So hätten die Löhne und Renten eingefroren und die Subventionen für Treibstoff und Heizung gekürzt werden müssen. Janukowitsch verzögerte die Umsetzung, schliesslich wollte er 2015 wiedergewählt werden. Doch der IWF liess sich das nicht gefallen. Nachdem nur gerade ein Fünftel der vereinbarten Summe ausbezahlt war, kappte die Washingtoner Institution im vergangenen Jahr den Geldfluss und zog sich zurück.
Nun schwärmen bereits wieder IWF-ExpertInnen durch die Ukraine, um die neue Lage zu peilen. Womöglich wird man diesmal die Bedingungen für einen neuen Kredit noch verschärfen. Und die EU wird sich den Forderungen des IWFs anschliessen. Die Ukraine hat keine Alternative mehr. Nicht mal mehr mit der Hinwendung nach Russland kann man drohen. Dem Land droht ein «Strukturanpassungsprogramm», noch dramatischer, als es Griechenland durchlaufen muss. Und die Bevölkerung wird dazu nichts zu sagen haben.
Globale Konkurrenz
Wirklich Entscheidendes in einem Staat zu verändern, scheint immer weniger möglich zu werden. Die Globalisierung hat ein Weltwirtschaftssystem hervorgebracht, aus dem einzelne Staaten nicht einfach aussteigen können. Das System beruht auf Freihandel, und das bedeutet primär Konkurrenz. Staaten stehen in direkter Konkurrenz zu anderen Staaten. Bevölkerungen müssen sich mit anderen Bevölkerungen messen. Dabei geht es um die Höhe der Löhne, um das Investitionsklima, um den Preis der Ressourcen und die Kosten von hergestellten Produkten. Kapital kann unkontrolliert in ein Land hinein- und ganz schnell wieder hinausfliessen. Dieses System bringt nicht Wohlstand für alle, wie die klassische liberale Wirtschaftstheorie behauptet, sondern verbreitet Lohndruck, Arbeitslosigkeit und Unsicherheit. Die Ungleichheit nimmt zu.
Leben in der Postdemokratie
Man mag hier einwenden, dass in einer Demokratie die Bevölkerung ja regelmässig die VerwalterInnen ihres Landes wählen und unfähige Leute auch abwählen kann. Die britische Zeitschrift «Economist» vermeldete kürzlich, dass immerhin vierzig Prozent der Weltbevölkerung in einem Land leben, das «freie und faire Wahlen» abhält – mehr als jemals zuvor. Doch bedeuten freie Wahlen auch automatisch Demokratie? Wie demokratisch ist ein Präsidialsystem, in dem der Präsident zwar alle paar Jahre gewählt werden darf, aber in der Zwischenzeit schalten und walten kann, wie er will?
Der britische Soziologe Colin Crouch hat vor ein paar Jahren den Begriff «Postdemokratie» geprägt. Die Demokratie sei drauf und dran, ihre Substanz zu verlieren – auch in den westlichen Staaten. Wichtige Entscheide würden immer mehr in undemokratischen Gremien wie dem IWF fallen. Die Demokratie werde zum Spielball der Eliten, zu einer reinen Fassade. Zwar gibt es nach wie vor Wahlen, Institutionen und Parteien. Doch gerade die Parteien sind austauschbar geworden und stehen nicht mehr für soziale Klassen oder Schichten. Den Unterprivilegierten fehle es zunehmend an einer gemeinsamen Identität, die früher etwa durch sozialdemokratische Parteien vermittelt wurde. Was unterscheidet etwa in Deutschland noch eine SPD von der CDU? Parteien sind gemäss Crouch zu «Maschinen geworden, die nach Wählern Ausschau halten». Es sind Vehikel der Eliten, um mitzumischen.
Sicher, Demokratie war schon immer käuflich. Parteien sind schon lange Wahlmaschinen und werden von einflussreichen GeldgeberInnen beherrscht. Allerdings waren früher Staaten autonomer und liessen sich noch mehr von innen heraus steuern. Die Spielräume waren grösser. Heute begrenzen internationale Institutionen und Freihandelsabkommen mehr und mehr den Rahmen der Politik.
Soziale statt nationaler Themen
Dass Demokratie mehr ist, als alle vier Jahre das kleinere von zwei Übeln zu wählen, wissen viele, die gegen die bestehenden Verhältnisse protestieren. Die Protestbewegungen der letzten Jahre waren in vielen Ländern auch ein Experimentierfeld für neue Demokratieformen. Protestierende machten nicht einfach das, was ihnen einige selbst ernannte AnführerInnen vorgaben, sondern setzten sich im öffentlichen Raum zusammen und diskutierten ihre Forderungen und Aktionen aus. Das war sowohl bei der Occupy-Bewegung 2011 ein zentraler Bestandteil des Protests – ob in New York, Frankfurt oder Zürich – als auch bei den Protesten im Gezipark von Istanbul im letzten Jahr.
Auch in Bosnien-Herzegowina zeigt sich derzeit dieses Bedürfnis nach mehr Mitbestimmung. Seit Monaten wird dort in allen Landesteilen gegen staatliche und lokale Machthabende demonstriert, die der grossen Wirtschaftskrise nichts entgegensetzen. Den PolitikerInnen wird Misswirtschaft und Korruption vorgeworfen. Parteizentralen und Regierungsgebäude gingen mehr noch als in der Ukraine in Flammen auf. Die Protestierenden treffen sich in vielen Städten fast täglich in sogenannten Plenen und diskutieren konkrete Forderungen: Korrupte PolitikerInnen werden zum Rücktritt gezwungen und dubiose Privatisierungen hinterfragt. Es gibt gar sachte Anzeichen dafür, dass der spaltende Nationalismus zwischen der serbischen, der kroatischen und der bosniakischen Bevölkerung überwunden werden kann.
So sagt der bosnische Schriftsteller Igor Stiks gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: «Hier findet gerade eine soziale Revolution statt. Es gibt keinen raschen Wandel, aber zum ersten Mal werden soziale Themen über die nationalen gesetzt. Das ist die grösste Errungenschaft.» Der einst von oben herab verordneten Demokratie, die das Land nach den Bedürfnissen der nationalistischen Eliten aufgeteilt hatte, setzt die Protestbewegung in Bosnien-Herzegowina eine neue Demokratie entgegen. Eine Demokratie von unten.