Wahlen im Irak: Auf einen Whisky in Empire City
Die autonome kurdische Region im Irak ist vergleichsweise friedlich und stabil. Die Hauptstadt Erbil boomt, nicht zuletzt dank der Ölvorkommen. Aber auch hier sind die Regierenden wenig an Demokratie interessiert.
«Schade, dass man Saddam Hussein aufgehängt hat», sagt Daham al-Dschaburi, ein Taxifahrer aus Rabia, einer irakischen Grenzstadt zu Syrien. «Würde er noch regieren, könnten wir ohne Probleme nach Mosul fahren. Stattdessen schneidet man Ihnen heute dort den Kopf ab.» Mosul ist ein Zentrum islamistischer Terrorgruppen, die dort seit Jahren Schutzgelder für ihre Finanzierung erpressen. «Glauben Sie mir», fährt Dschaburi fort, «Saddam würde in nur wenigen Wochen mit diesen Extremisten aufräumen, und es gäbe Frieden und Sicherheit im Land.»
Eine Insel der Liberalität
Viele Iraker würden heute so denken, versichert der sunnitische Taxifahrer am Steuer seines uralten, roten Toyota Pick-ups, der durch die von Schlaglöchern übersäte Strasse holpert. Seiner Meinung nach sei sein Land ein Opfer US-amerikanischer Machtpolitik, und alle regierenden Politiker in Bagdad stünden auf der Lohnliste Washingtons. Natürlich hält Dschaburi nichts von den Parlamentswahlen am 30. April. «Ein inszeniertes Theater ist das, nichts weiter», meint er mit abweisender Handbewegung. «Nur Saddam könnte alles zum Guten wenden. Aber dem haben sie wie einem Hund die Schlinge um den Hals gelegt.» Dschaburi bringt uns zur Grenze nach Kurdistan, dem einzigen Gebiet im Irak, in dem man als Europäer noch sicher sei. «Gehen Sie in Frieden», sagt er zum Abschied.
Auf der Weiterfahrt ins 200 Kilometer entfernte Erbil, die Hauptstadt der autonomen kurdischen Region im Norden des Landes, passiert man unzählige Checkpoints. Das Auto wird immer wieder aufs Neue nach Sprengstoff und Waffen durchsucht und die Identität der Wageninsassen überprüft. Es ist ein weit verzweigtes, dichtes Sicherheitsnetz, mit dem die kurdische Regionalregierung erfolgreich ihre Städte und die Bevölkerung schützt. Autobomben und Mordanschläge, die im Rest des Irak zum Tagesgeschäft gehören, sind im kurdischen Gebiet eine Seltenheit. Hier leben 4,7 Millionen Menschen, fünfzehn Prozent der irakischen Gesamtbevölkerung.
In Erbil gehen Frauen ohne Kopftuch, auffallend geschminkt und in eng anliegenden Hosen spazieren. Pärchen halten ungeniert Händchen, und in Geschäften wird selbst an religiösen Feiertagen Alkohol gekauft. Viele IranerInnen kommen übers Wochenende oder verbringen ihre Ferien hier, um ungestört in Bars und Discos zu feiern. «Zu Hause können wir nur in Privatwohnungen oder Häusern Party machen», sagt ein 27-Jähriger aus Teheran, der mit drei seiner Freunde für eine Woche nach Erbil gekommen ist. Im arabischen Teil des Irak ist so etwas völlig undenkbar. Dort kann es das Leben kosten. «Wir mussten 2003 unser Alkoholgeschäft in Bagdad aufgeben», erzählt Samad Nadschat, der im Laden seines Vaters im Zentrum von Erbil gerade Whiskyflaschen und Bierdosen in Tüten packt. «Zweimal gingen bei uns Bomben hoch. Zum Glück gab es immer nur Sachschaden.»
Seit diesen Attentaten und dem erzwungenen Umzug hat Nadschat jeden Glauben an Politik und Autoritäten verloren. «Ich gehe grundsätzlich nicht mehr wählen, denn das verändert nichts.» Aber sein Vater werde bei den Wahlen am 30. Juni für Massud Barsani stimmen. Barsani ist Präsident der kurdischen Regionalregierung und leitet die Demokratische Partei Kurdistans (DPK). Sie regiert zusammen mit der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). «Egal welche Partei, alle sind Betrüger und Diebe, wie immer sie sich auch nennen mögen», sagt Nadschat mit einem verächtlichen Lachen. «Sie schieben alles in die eigene Tasche.»
Vor zehn Jahren sei Erbil noch ein Dorf gewesen, sagt ein Supermarktbesitzer. Heute ist der Ort mit 1,3 Millionen EinwohnerInnen eine moderne Stadt. Teure Autos sind auf der Strasse allgegenwärtig. Neue, exklusive Wohnsiedlungen werden errichtet. «Empire City», ein Geschäftszentrum, das mit seinen im Bau befindlichen Hochhäusern an Dubai erinnert, soll 2017 eröffnet werden. Erbil boomt, nicht zuletzt wegen der Erdölvorkommen. Die Golfstaaten investieren lieber im stabilen Teil des Irak.
Warten auf das neue Parlament
In der kurdischen Hauptstadt ist der Wahlkampf unübersehbar. Jeder freie Platz an Häuserwänden oder Fussgängerbrücken ist mit Plakaten übersät. Fahnengirlanden sind über Strassen gezogen, hängen an Geschäften oder schmücken öffentliche Brunnen und sogar Verkehrsschilder. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass neben den Parlamentswahlen gleichzeitig Regionalwahlen stattfinden. «83 Prozent der Wahlberechtigten haben bereits ihre elektronische Wahlkarte», behauptet Schuwan Taha von der DPK stolz, der erneut für einen Abgeordnetensitz in Bagdad kandidiert.
Für Taha spielen die Regionalwahlen eine untergeordnete Rolle. «Die Parlamentswahlen bestimmen die Zukunft des Irak und Kurdistans.» Die entscheidende Frage sei, ob man den irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki stoppen könne. «Seine Politik hat auf nationaler Ebene eine Grenze überschritten und ist nicht mehr zu tolerieren», stellt Taha fest. Maliki habe seine Macht politisch, ökonomisch und über bewaffnete Milizen gefestigt. «Als Premier ist er gleichzeitig Verteidigungsminister, Innenminister, Finanzminister und auch Chef des Geheimdiensts.» Das müsse ein Ende haben.
Ebenfalls nicht mehr zu tolerieren sei Malikis Haltung gegenüber Kurdistan. Seit Monaten gibt es keine Einigung über den Anteil der autonomen Region am Staatshaushalt. Bisher hatte sie davon siebzehn Prozent zugute, «tatsächlich erhielten wir nur zehn oder elf Prozent», meint Taha. Hintergrund des Budgetproblems ist die Verteilung der Einnahmen aus den Verkäufen von Erdöl und Erdgas. Bisher verwaltete die Zentralregierung die Erlöse aus dem einzigen gewinnträchtigen Geschäft im Irak.
Die KurdInnen möchten nicht mehr vom Gutdünken Bagdads abhängig sein, zumal sie in den letzten Jahren angefangen haben, eigene Förderanlagen und Raffinerien zu bauen. Taha glaubt, dass seine Region auf eigene Rechnung Öl und Gas verkaufen kann. «Sonst muss man über eine Abspaltung Kurdistans vom Rest des Irak nachdenken», sagt Taha. «Aber erst sollte man einmal abwarten, was das neue Parlament bringt.»
Wesentlich pessimistischer ist Rawaz M. Choschnaw, ein DPK-Kollege im Parlament von Bagdad. Der 35-Jährige warnt vor einer Diktatur Malikis. «Die Wahlen bringen sehr wahrscheinlich keine klaren Mehrheiten», glaubt Choschnaw. Die Regierungsbildung werde sich hinziehen, was für Malikis Regierung einen Vorwand liefere, weiter im Amt zu bleiben.
Unterstützung durch Iran und USA
Insgesamt stehen für das Parlament 142 Parteien zur Wahl, die zu 41 Bündnissen gehören. «Es ist tatsächlich kaum zu erwarten, dass eines dieser Bündnisse eine mehrheitsfähige Regierung bilden kann», bestätigt Wladimir van Wilgenburg, Nahostspezialist der Jamestown-Stiftung in Washington D. C. «Die Kurden waren nach den letzten Wahlen die Königsmacher von Maliki, was sich aber nach den letzten Ungereimtheiten nicht mehr wiederholen dürfte.» Van Wilgenburg glaubt allerdings, dass es für einen unabhängigen Staat Kurdistan noch zu früh ist. «Die Barsani-Regierung verhandelt zwar mit der Türkei über Erdölexporte. Aber bisher fehlen noch viele Strassen, Leitungen und Raffinerien, um unabhängig von Bagdad sein zu können.»
Der Parlamentsabgeordnete Choschnaw kandidiert nicht mehr für sein Amt. «Die Wahlen verändern nichts», sagt er entschieden. «Maliki hat das Parlament Schritt für Schritt entmachtet.» Er werde von den USA und dem Iran unterstützt. Für Washington sei er das «kleinere Übel» im Vergleich zu anderen, weitaus radikaleren schiitischen PolitikerInnen. Maliki steht für Kontinuität. Der Iran will ihn als verlängerten Arm, der die Interessen der Islamischen Republik vertritt. Er soll weiter den Kampf des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gegen die RebellInnen unterstützen. Der Iran nutzt den irakischen Luftraum für seine Waffenlieferungen an das Regime in Damaskus.
Für Maliki käme die Abspaltung der Kurdenregion, abgesehen vom Verlust von Erdöleinnahmen, nicht ganz ungelegen. Ohne die sunnitischen KurdInnen würden die SchiitInnen achtzig Prozent der Bevölkerung stellen. Die arabischen SunnitInnen wären damit in die Rolle einer Minorität gezwungen, der man kein grosses Mitspracherecht zugestehen müsste. Der Irak würde ein schiitischer Staat.
Im Erbiler Stadtteil Scharawani liegt eines der Parteibüros von al-Goran (Der Wechsel). Die Partei ist seit 2009 in der Opposition. Ihr sagen verschiedene Umfragen den Sieg bei den Regionalwahlen sowie zusätzliche Sitze im Parlament von Bagdad voraus. «Ich denke nicht, dass Maliki eine dritte Amtsperiode antreten kann», meint Abdulsamid Abdulhay, der für die Partei Politikanalysen macht. «Seine Regierung vermochte keine Sicherheit zu bieten, und die Menschen haben genug vom täglichen Blutbad in irakischen Städten.» Das sollte sich eigentlich im Wahlergebnis niederschlagen, meint er.
Abdulhay glaubt allerdings nicht an faire Wahlen. «Stimmenkauf ist völlig normal. Auch hier in Kurdistan wird die herrschende DPK zu illegalen Mitteln greifen», sagt der Vertreter von al-Goran. Die Regierung von Präsident Barsani sei bekannt für Korruption und Vetternwirtschaft. «Er besetzt neue Ämter möglichst mit Familienangehörigen oder Clanmitgliedern.»
Die kurdische Region ist zumindest jetzt noch fest im Griff der DPK und der anderen Regierungspartei, PUK. Beide haben ihre eigenen Peschmerga-Einheiten (bewaffnete Sicherheitskräfte), die machen können, was sie wollen. Einen Eindruck davon bekommt man an der Grenze zu Rojava, dem kurdischen Gebiet auf syrischem Boden (siehe WOZ Nr. 4/2014 ). Entlang der Grenze liess die kurdische Regionalregierung einen tiefen Graben ausheben. Damit will man den Schmuggel und andere illegale Machenschaften zwischen den beiden kurdischen Teilen verhindern. Die Schliessung der Grenze bedeutet eine Blockade von Rojava.
«Es ist eine Schande»
In Rojava ist die kurdische Bevölkerung im Westen und Süden von radikalen Islamisten eingekreist. Im Norden liegt die türkische Grenze, die ebenfalls geschlossen ist. «Ich kann meine Familie im Irak nicht mehr sehen», sagt einer der DemonstrantInnen, die sich bei Gersor auf der syrischen Seite versammeln. Nur auf langen Umwegen und mit einigen Tricks kann man von der irakischen Kurdenregion dorthin gelangen. «Nun erreichen uns keine Hilfsgüter mehr, und Flüchtlinge können sich nicht mehr in Sicherheit bringen», sagt der Familienvater, «obwohl wir im Krieg sind und es im Kampf gegen Extremisten um unsere Existenz geht.» Eine andere Demonstrantin ruft: «Es ist eine Schande, das seinen kurdischen Brüdern anzutun.» Die gute Laune lassen sie sich trotzdem nicht nehmen. Zwischen den Zelten des Protestcamps wird zu traditioneller kurdischer Musik getanzt.
Auf der anderen Seite des Grabens stehen keine hundert Meter entfernt die Peschmergas. Mit dem Fernglas in der Hand beobachten sie jede Bewegung, die ihre «kurdischen Brüder» auf der syrischen Seite der Grenze machen. Zu einem Tanzschritt oder zum Mitwippen lassen sie sich nicht hinreissen, obwohl die laute Musik Bestandteil der gemeinsamen kurdischen Kultur ist. Die Wächter über die irakische Kurdenregion bleiben ernst, als hätten sie mit all dem nicht das Geringste zu tun.
KurdInnen im Irak und in Syrien : Eier und Gleichberechtigung
Der Graben, der das syrische vom irakischen Kurdistan trennt, ist siebzehn Kilometer lang, zwei Meter breit und drei Meter tief. Er ist ein Symbol für die ideologische und politische Spaltung der KurdInnen.
Im Irak verfolgt die regierende DPK einen bürgerlichen Weg. Sie ist eine pragmatische Partei der Mitte, die ihre Herrschaft mittels eines starken Sicherheitsapparats sichert. Die DPK will die Türkei als Partnerin für Ölexporte – obwohl das Nachbarland über drei Jahrzehnte lang den KurdInnen die Gleichberechtigung verweigerte und bis heute kurdische Journalistinnen und Aktivisten einsperrt.
Die im syrischen Kurdengebiet dominante Partei der Demokratischen Union (YPD) gilt hingegen als Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die in der Türkei und bei deren Alliierten als Terrororganisation gilt. So sieht es auch DPK-Politiker Schuwan Taha: Ob al-Kaida oder PKK – für die Regierung in Erbil seien beide «Eier des gleichen Terrorhuhns». Man will der Türkei gefallen, um die gemeinsamen Wirtschaftsbeziehungen ausbauen zu können. Die DPK wäre auch gerne Alleinvertreterin sämtlicher KurdInnen.
Dabei wird vergessen, dass die Milizen der YPD ihre Region gegen die Invasion radikalislamistischer Rebellengruppen verteidigen und auch die christliche Bevölkerung im Norden Syriens schützen. Die YPD will soziale Ungleichheit beseitigen und tritt für die Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Jede ihrer Organisationen wird von einem Mann und einer Frau gemeinsam geführt.
Alfred Hackensberger