Kulturkampf: «Die Schweiz wird einen hohen Preis zahlen»
Abschottung, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit: Wohin treibt die Schweiz? Ein Manifest des Club Helvétique spricht von einem neuen Kulturkampf. Die SP-Politikerin und Club-Mitglied Hildegard Fässler über das Land und seine ZerstörerInnen.
WOZ: Frau Fässler, der Club Helvétique beschreibt in seinem jüngsten Manifest «Welche Schweiz wollen wir?» ein Land am Scheideweg und spricht von einem neuen Kulturkampf. Wohin steuert die Schweiz?
Hildegard Fässler: In die Isolation, in den Alleingang, in die Abschottung. Das lässt sich festmachen am Zerfall von Werten, die noch vor wenigen Jahren als unverhandelbar galten und die Schweiz im Kern ausmachen – den Menschenrechten, dem Völkerrecht, dem Umgang mit Minderheiten. Diesen Konsens der wesentlichen politischen Kräfte, einen Konsens, der das Ganze im Auge behielt, gibt es nicht mehr. Das Undenkbare wird zu einem bedenklichen Normalfall, der die Schweiz, wie wir sie kennen, grundlegend verändern könnte: Rechtsstaatliche Prinzipien werden geritzt, die Gewaltenteilung infrage gestellt. Darauf weisen wir hin. Und hoffen auf eine breite Debatte, auf eine Rückbesinnung auf die Werte, die die Schweiz stark gemacht haben.
Woran machen Sie diesen Befund fest?
In der Zustimmung zu fremdenfeindlichen und isolationistischen Initiativen, in der Etablierung einer Denkzettel- und Sündenbockpolitik, die inzwischen bis weit ins bürgerliche Lager hinein gediehen ist. Konkret äussert sich das etwa in der Annahme der Minarettinitiative oder der «Initiative gegen Masseneinwanderung». Und sollte die von der SVP angekündigte Initiative angenommen werden, die das Asylrecht faktisch abschaffen und damit die Reste der humanitären Tradition der Schweiz ganz begraben möchte, würde sich die Schweiz ins Abseits manövrieren. Für diese Entsolidarisierung müssten wir einen hohen Preis zahlen.
Wo sehen Sie die Ursachen für diese Entwicklung?
Eine Partei stellt seit Jahren radikal die Machtfrage: Die SVP tut alles, um ihr Wählerpotenzial rücksichtslos zu vergrössern – mit dem Mittel der Ausgrenzung und der Verächtlichmachung des Anderen schlechthin. Ob das nun Ausländer, Minderheiten, Andersdenkende oder die sogenannte Classe politique sind, zu der Dr. jur. Christoph Blocher ja selbst gehört. Den SVP-Strategen ist es völlig wurscht, dass die Schweiz dabei auf der Strecke bleibt. Sie spalten das Land und ziehen Profit daraus. Leider ist es den anderen Parteien – von der SP bis zur FDP – nicht gelungen, dem ein Bild der Schweiz entgegenzusetzen, für das es sich einzustehen lohnt: einer Schweiz, die nicht selbstgenügsam und besserwisserisch ist, einer Schweiz, die offen und lebenswert bleibt für alle, einer humanitären Schweiz gegenüber einer Scheuklappen-Schweiz. Der SVP ist es mit ihrer extremistischen Politik gelungen, die bürgerlichen Parteien, grosse Teile der Medien und selbst manche Linke nach rechts zu ziehen. Diese Verschiebungen in der politischen Tektonik sind brandgefährlich, die Folgen dieser Erschütterungen noch nicht wirklich absehbar.
Die SVP ist wieder mal an allem schuld. Machen Sie es sich damit nicht etwas zu einfach?
Richtig ist, dass die SVP derzeit das beste Politmarketing macht und dass sie teils reale Probleme anspricht, aber entweder keine Lösungen bietet oder die Lösungen, die sie vorschlägt, unbrauchbar sind.
Nehmen die anderen Parteien die Befindlichkeiten in der Bevölkerung nicht ernst?
Ach, diese Leier mag ich nicht mehr hören. Eine sachgerechte Sicht ist eben schwieriger und einer breiten Öffentlichkeit manchmal kaum zu vermitteln. Viele dieser «Befindlichkeiten» speisen sich nicht aus realen Erfahrungen, sondern aus Vorurteilen. Nehmen wir das Rheintal, wo ich lebe: Ein Grossteil der Bevölkerung unterstützt eine harte Linie gegen alles Fremde, obschon der Ausländeranteil hier tief ist. Das ist keine neue Feststellung. Weshalb das so funktioniert? Da bin ich ratlos. In Gesprächen mit Einzelnen gelingt es durchaus, die Realitäten darzustellen. Ich kam mal im Zug ins Gespräch mit einem Mann, der die Volksnähe Blochers über den grünen Klee lobte. Ja, sagte ich, das stimmt wohl: Herr Blocher fährt in seiner abgedunkelten Limousine nach Bern und ich im Zug; mein Haus ist nicht umzäunt, während Herrn Blochers Villa von einem hohen Zaun umgeben ist. Weshalb eine Partei mit groben Verzerrungen der Wirklichkeit so viele Leute erreicht, ist schwer zu verstehen. Dennoch bleibt für mich nur ein Weg: aufklären, aufklären, aufklären. Denn ich glaube, längst nicht alle, die diesen SVP-Initiativen zustimmen, sind fremdenfeindlich. Sie müssen wir überzeugen.
SVP-Vertreter gehen an jede Hundsverlochete, während es sich grosse Teile der Linken in ihren urbanen Wohlfühloasen gemütlich gemacht haben.
Stimmt. Es lohnt sich, sich vermehrt an Stammtische zu setzen und Wahlkampf auf der Strasse zu machen. Die Leute nehmen diese direkten Kontakte durchaus wahr, wie übrigens die Wahl von Paul Rechsteiner in den Ständerat zeigt.
Bei der «Masseneinwanderungsinitiative» spielten Lohn- und Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt eine Rolle. Sind das keine realen Probleme?
Wer hat bei der Einführung der Bilateralen die Löhne mit flankierenden Massnahmen gegen den Widerstand des rechtsbürgerlichen Lagers inklusive Economiesuisse geschützt? Gewerkschaften, Gewerbler und Linke. Wer hat das Lohndumping von Subunternehmern auf Baustellen bekämpft und schliesslich eine Haftung dieser Subunternehmer gesetzlich verankert? Die treibende Kraft waren Gewerkschaften und Linke. Offenbar geht das leider vergessen. Zum Lohn- und Konkurrenzdruck: Auch hier gilt, dass längst nicht alle, die Ja gestimmt haben, direkt betroffen gewesen wären. In den gefährdeten Branchen arbeiten vor allem Ausländer. Als mein Mann als Hochschuldozent pensioniert wurde: Wer meldete sich auf die Stellenausschreibung? Kein Schweizer. Als ich meinen Job als Mittelschullehrerin aufgab: Wen stellte man für mich ein? Zwei deutsche Physikstudenten. Bleiben wir doch auf dem Boden der Realität.
Der Club Helvétique, dem sie angehören, spricht in seinem Manifest davon, dass eine «Totaldemokratie» tendenziell totalitär sei. Das müssen Sie erklären.
Wie gesagt: Noch vor wenigen Jahren waren Debatten über menschenrechts- und verfassungsfeindliche Initiativen undenkbar. Weil es in den bürgerlichen Parteien noch wirklich liberale Köpfe gab. Und die Bevölkerung hat den Politikerinnen und Politikern grundsätzlich vertraut, dass sie ihre Sache im Sinn aller gut machen wollen. Es war unbestritten, dass mit einer Abstimmungsmehrheit keine durch die Verfassung geschützten Rechte und Grundsätze ausgehebelt werden dürfen. Die abstimmende Mehrheit hat eben nicht immer recht. Heute herrscht grundsätzlich Misstrauen. Ausserdem setzt die SVP Volksentscheide absolut, als ob es bei uns nicht auch ein System der Checks and Balances gäbe, in dem der Souverän nicht alles darf. Die Gewaltenteilung, der Rechtsstaat schützt die Minderheiten vor staatlicher Willkür und willkürlichen Mehrheitsentscheiden.
Und was setzen Sie dagegen?
Aufklären, aufklären, aufklären. Trotz allem.
Genau damit sind Sie in den letzten Jahren gescheitert.
Mag sein, aber auch in der Politik gilt: Wer einen langen Atem hat, setzt sich schliesslich durch. Daher glaube ich weiterhin an die Kraft der guten Argumente.
Hildegard Fässler
Hildegard Fässler (63) politisierte von 1995 bis März 2013 für die SP im Nationalrat, davon eine Legislatur von 2002 bis 2006 als Fraktionspräsidentin. Von 2008 bis 2009 präsidierte sie die Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK). Die Mathematikerin und ehemalige Mittelschullehrerin aus dem Kanton St. Gallen profilierte sich in Bern als Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitikerin.
Fässler ist Mitglied des Club Helvétique. Diesem gehören unter anderem bekannte Persönlichkeiten wie der Historiker Georg Kreis oder der Mediensoziologe Kurt Imhof an. Aktuell zählt der Club dreissig Mitglieder – ProfessorInnen, HistorikerInnen, PolitikerInnen und Intellektuelle, die sich fünf- bis sechsmal jährlich treffen, über die Schweiz nachdenken und Stellungnahmen publizieren wie das aktuelle Manifest «Neuer Kulturkampf. Welche Schweiz wollen wir?». Bei den Rechtskonservativen ist der Club als elitär und als «Totengräber» der direkten Demokratie verschrien.