Durch den Monat mit Anita Ulrich (Teil 3): «Behalten Sie gern den Überblick?»

Nr. 34 –

Seit 1988 arbeitete Anita Ulrich (64) im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich. Als Leiterin prägte Sie das Bild des Archivs nachhaltig und führte viele verschollene Sammlungen im Archiv zusammen.

Anita Ulrich: «Zu meinen Lieblingsdokumenten zählt der Maibändel von 1892 mit der Forderung: Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Musse, acht Stunden Schlaf.»

WOZ: Frau Ulrich, das Sozialarchiv betreibt mit der Auswahl und Ordnung der Archive auch Geschichtsschreibung. Wie gingen Sie als Historikerin vor?
Anita Ulrich: Archive werden gerne als Orte des Gedächtnisses und der Erinnerung bezeichnet. Es gibt auch das gegenläufige Bild: Archive, die das Vergessen in den Vordergrund rücken. Archive können nicht alles aufbewahren, was geschrieben und dokumentiert wird. Sie müssen selektionieren, die historisch und rechtlich relevanten Akten aufbewahren und die belanglosen ausscheiden. Sie greifen damit in die Bildung des historischen Gedächtnisses ein und beeinflussen die Erkenntnismöglichkeiten der Geschichtswissenschaft.

Wir haben beispielsweise alle Gewerkschaftsarchive der Schweiz, und zwar komplett. Dabei stellte sich oft die Frage: Wollen wir jede Gewerkschaftssektion des Kantons Zürich separat sammeln? Als Historikerin und ehemalige Vorsteherin des Sozialarchivs habe ich in dieser Frage zwei Seelen in meiner Brust. Die Vorstellung, dass die Historikerin in mir alles behalten und die Archivarin möglichst viel wegwerfen will, trifft nicht zu. Als Historikerin habe ich immer mit Lücken in der Überlieferung gelebt. Im Sozialarchiv überlegen wir gründlich, was wir ausscheiden wollen, es sind oft Buchhaltungsbelege, administrative Unterlagen oder Routinekorrespondenzen.

Was ist dann der Beitrag des Sozialarchivs zum Gedächtnis der Schweiz?
Das Sozialarchiv leistet einen wesentlichen Beitrag zur kollektiven Erinnerung. Es übernimmt Archive privater Organisationen und privater Personen. Es gibt in der Schweiz keine Aufbewahrungspflicht für Private. Privatarchive sind immer gefährdet, bei Umzügen, Platzmangel im Archivraum oder bei Fusionen wird vieles weggeworfen und verschwindet.

Hat denn das Sozialarchiv auch schon Bestände nicht angenommen?
Ja, das kann vorkommen, wenn der Bestand nicht ins Profil des Sozialarchivs passt. Es kam auch schon dazu, dass eine Organisation sich zerstritt, sodass nicht mehr auf einer rationalen Ebene diskutiert werden konnte. Es gibt auch Bereiche, die uns mengenmässig schlicht überfordern. Dazu zählen Gesundheitspflege, Bildung oder Sport.

Gibt es Exemplare, auf die Sie besonders stolz sind?
Für mich ist das Sozialarchiv ein Eldorado. Bei Führungen habe ich immer wieder überraschende Entdeckungen gemacht.

Zu meinen Lieblingsdokumenten zählt der Maibändel von 1892 mit der Forderung: Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Musse, acht Stunden Schlaf. In dieser Forderung steckt ein politisches Langzeitprogramm. Wenn ich bei der Musse bleibe, kommen mir die hervorragenden Bestände der Arbeitersport- und -kulturbewegung in den Sinn, die Filme und Fahnen der Arbeiterradfahrer. Dann das Videoarchiv «Stadt in Bewegung», eine einzigartige Sammlung zur Jugendbewegung der achtziger Jahre. Auf das 2003 gegründete Bild- und Tonarchiv bin ich stolz. Verschollen geglaubte Nachlässe sind besondere Trouvaillen: Beispiele sind der Nachlass von Herman Greulich mit einzigartigen Quellen zu seinem Wirken als Fotograf, darunter die Bierrundenaufnahmen von Friedrich Engels, August Bebel, Eduard Bernstein und Klara Zetkin von 1893.

Wie ist das Bild- und Tonarchiv genau entstanden?
Soziale Bewegungen haben eine Flut von audiovisuellen Dokumenten produziert. Flugblätter, Fotos, Pins und Buttons für Kampagnen, Filme, Videos und Tondokumente: All das ist zusammen mit den Archivablieferungen ins Haus gekommen. Mich hat das immer interessiert. Was waren das für Filme in den grossen Blechboxen im Magazin? Es gab noch keine Methode, sie wieder nutzbar zu machen. Der Durchbruch kam mit den Möglichkeiten der Digitalisierung. Weil audiovisuelles Material eine besondere Behandlung erfordert, brauchte es eine spezialisierte Abteilung und die entsprechende Infrastruktur. Vom Bund haben wir zusätzliche Mittel erhalten, um die audiovisuellen Bestände zu erschliessen.

Für ein Archiv braucht es Ordnungssinn. Behalten Sie gerne den Überblick?
Ich habe persönlich ein wenig ein Problem mit Unordnung, das stimmt. Wenn etwas nicht so geordnet ist, wie ich es möchte, muss ich es anders machen. Für mich gehen Archiv und Bibliothek nicht mit Unordnung zusammen. So muss die Aufstellung der Dokumente einer strengen Ordnung folgen, sonst findet man sie nicht mehr. Ordnen, Klassifizieren, Erschliessen sind Kernaufgaben eines Archivs. Dazu benötigt man einen Sinn für Analyse und Logik, aber auch Genauigkeit und den Überblick. Diese Tätigkeit ist zwar wenig spektakulär, für die Benutzung aber unentbehrlich.

In Ihrer Freizeit sind Sie offenbar am liebsten in der Natur, beim Wandern. Sehen Sie in der Natur ein wenig jenes Chaos, das sonst bei Ihrer Arbeit keinen Platz hat?
So habe ich das noch nie gesehen. Die Natur bedeutet für mich Ruhe und Freiheit, das Gefühl, aufgehoben zu sein. Ich empfinde die Natur als wohlgefügte Ordnung, hinter der ein schöpferisches Prinzip steht. Dass die Menschheit so zerstörerisch mit der Natur umgeht, beunruhigt mich.

Anita Ulrich verlässt nach 26 Jahren das Sozialarchiv. Sie war massgeblich beteiligt an der Gründung des hauseigenen Bild-und Tonarchivs.