Griechenland: Die Operation gibt es nur auf Schleichwegen

Nr. 34 –

Rund ein Drittel der griechischen Bevölkerung kann sich die Krankenversicherung nicht mehr leisten; diesen Menschen ist der Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem verschlossen. In der Not hilft die Solidarität.

Makis Mantas schliesst sein Motorrad ab und geht mit schweren Schritten auf die Eingangstür eines Hauses aus den sechziger Jahren zu. Während er aufschliesst, beginnt er zu erzählen. Er selbst sei Neurologe, Mitbegründer dieser Anlaufstelle in Athen und jeden Donnerstag ab sechzehn Uhr vor Ort. Hier, im zentralen, alternativ geprägten Athener Stadtteil Exarchia, haben er und mehrere Freunde und Bekannte im Januar 2013 die «Klinik der Solidarität» eröffnet. Immer mehr Helferinnen und Helfer kamen dazu. Sie alle arbeiten unentgeltlich.

Mantas stösst die Tür auf und geht die schmalen Stufen hinauf. Die Räumlichkeiten befinden sich in zwei Wohnungen im zweiten und dritten Stock des Hauses. Ärztinnen und Ärzte jeder Fachrichtung behandeln hier kostenfrei ihre PatientInnen. Medikamente, Geräte für Untersuchungen, Möbel und auch die Miete der Räume kommen ausschliesslich durch Sach- und Geldspenden zustande. Der Staat zahlt nichts.

Anfänglich für Sans-Papiers gedacht

Die erste Klinik der Solidarität entstand im November 2011 in Thessaloniki. Gedacht war sie ursprünglich für MigrantInnen, die ohne Papiere unterwegs sind und somit keinen Zugang zum griechischen Gesundheitssystem haben. Doch dann war die Nachfrage aus der griechischen Bevölkerung mindestens genauso gross. Immer mehr Solidaritätskliniken entstanden in verschiedenen Städten Griechenlands. Unter den PatientInnen sind derzeit fünfzig bis siebzig Prozent griechischer Herkunft. Denn «immer mehr Menschen sind nicht mehr versichert, weil sie sich das einfach nicht mehr leisten können», sagt Mantas, während er die letzten Treppen in den dritten Stock nimmt. Arbeitet er ehrenamtlich? Mantas hält kurz inne. Nein, als «ehrenamtlich» könne man das nicht bezeichnen. Der Blick des Neurologen ist energisch: «Ich arbeite hier umsonst, weil das heute eine Notwendigkeit ist.» Hier in Griechenland gebe es grundlegende gesellschaftliche Probleme. Das einstige System trägt nicht mehr – Menschenleben würden einfach auf die Strasse geworfen, und kaum einen kümmerts.

Das staatliche Gesundheitssystem könne die hilfsbedürftigen Menschen nicht auffangen, sagt Mantas. Es erhält wegen der Sparauflagen rund fünfzig Prozent weniger Mittel. «Kliniken und Krankenhäuser schliessen, Krankenhauspersonal und Ärzte werden entlassen, es gibt immer weniger Raum, um Menschen stationär zu behandeln. Oft liegen mehr als zehn Menschen in den Notaufnahmen auf engem Raum nebeneinander. Medikamente müssen sofort und in bar gezahlt werden», berichtet der Arzt. Die Verhältnisse seien katastrophal.

Apotheken spenden

Laut der griechischen Statistikbehörde Elstat lebt knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung Griechenlands mit rund 500 Euro pro Monat und somit an der Armutsgrenze. Wie soll man da noch die Versicherung oder Medikamente bezahlen? Mittlerweile sind über ein Drittel der etwa zehn Millionen Menschen im Land nicht mehr versichert. Ihnen ist der Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem verschlossen. Deshalb sei die Solidaritätsklinik so wichtig.

Die Tür im dritten Stock, an der das rot-weisse Schild der Klinik hängt, ist angelehnt. Telefonklingeln und leises Stimmengewirr sind auf dem Flur zu hören. Makis Mantas tritt ein. Sprechstundenhilfe Alexandra Pavlou, eine arbeitslose Übersetzerin, arbeitet heute hier, nimmt Telefonanrufe entgegen, gibt Medikamente auf Rezept aus. Die Medikamentenspenden bringen Leute meist persönlich vorbei. Ausserdem wird die Klinik der Solidarität von einigen Apotheken im Umkreis unterstützt. «Ich mache ab und an meine Apothekenrunde und sammle dort die Spenden ein», erzählt Pavlou. Natürlich nehme sie keine abgelaufenen Produkte entgegen. Das sei viel zu riskant, da der Staat die Kliniken der Solidarität eh schon argwöhnisch betrachte. Es hat sogar schon eine Anzeige wegen Drogenmissbrauchs gegeben.

Alexandra Pavlou selbst hat schon lange keinen Job mehr, Sozialhilfe gibt es in Griechenland nicht, und so macht sie sich hier nützlich. Um über die Runden zu kommen, vermietet sie ein Zimmer ihrer Wohnung. Pavlou blättert kurz in dem grossen Terminplaner auf dem Schreibtisch im Wartezimmer, nennt Mantas ein paar Namen von PatientInnen, die heute kommen. Dann zieht Mantas die Schiebetür zu seinem Behandlungszimmer auf und verschwindet dahinter.

Ein alter Mann, der seinen Mantel fest um sich gezogen hat, und eine Frau sitzen bereits im Warteraum. Der Blick der Frau ist schwer. Sie schaut kurz auf. So schlimm sei alles, dass sich ihr Rücken ganz verkrampft habe, erzählt sie mit leiser Stimme. Sie spricht fliessend Griechisch, hat aber einen Akzent. Woher sie komme, sei egal, sie wolle nicht erkannt werden, schäme sich, hier zu sein. Sie habe nichts mehr, keine Arbeit, kein Erspartes. Kein einziger Job sei aufzutreiben. Und nächsten Monat müsse sie raus aus ihrer Wohnung. Sie könne seit ein paar Monaten die Miete nicht mehr zahlen. Leise fängt sie an zu weinen. Wohin soll sie ziehen? Sie wird wohl auf die Strasse müssen. Die Schiebetür geht auf, die Frau wird von Makis Mantas ins Behandlungszimmer gerufen. Der alte Mann vergräbt sich tiefer in seinen Mantel.

Kranken helfen, ob legal oder nicht

Es klingelt. Der Türöffner wird gedrückt, und ein weiterer Patient tritt ein. Mit offenem Blick nimmt der gut gekleidete Mann im Wartesaal Platz. Er war wegen seiner Verletzung am Arm schon öfter hier. Niko, der seinen vollen Namen nicht nennen möchte, ist Anwalt, doch seit der Krise haben die Aufträge immer weiter nachgelassen. Es sei ganz gleich, ob man Klempner, Grafiker oder eben Anwalt sei – die Krise reisse die komplette Mittelschicht in den Abgrund, sagt Niko. Er habe als Freischaffender ein normal gutes Leben gehabt, berichtet er weiter. Doch dann … Er hält inne. Wovon er jetzt lebe? Er greift in seine linke Manteltasche und holt ein paar Münzen heraus, lächelt mit bitterem Stolz. Das sei alles, was er für diesen Monat noch übrig habe. Woher er das Geld hat, verrät er nicht. Nur so viel: Seine Eltern haben ihm eine Wohnung hinterlassen. Allein deshalb sitze er jetzt nicht auf der Strasse.

Wenn er operiert werden müsste, gäbe es ein Problem – wie so oft in solchen Fällen. Denn dann müsste er an der Verwaltung vorbei ins Krankenhaus geschleust werden. Unter falschem Namen oder durch Bekannte und Freunde, die im staatlichen Krankenhaus arbeiten. Mantas, der Niko nun zu sich ins Behandlungszimmer ruft, sagt dazu kopfschüttelnd: «Wir betreten dann plötzlich einen illegalen Bereich. Aber es ist doch auch illegal, einem kranken Menschen nicht zu helfen, nur weil er nicht zahlen kann. Und immer zu helfen, das haben wir Ärzte doch geschworen.»