Die Medikamentenkammer der Krise
Donnerstag, 2. Juli: Ein Besuch in der Sozialklinik von Helliniko, wo PatientInnen ohne Krankenversicherung kostenlose Beratung und Medikamente erhalten. Den ÄrztInnen geht es um weit mehr als erste Hilfe.
Arixtra, Baraclude, Cardura – und so weiter dem Alphabet nach bis Xeristar, Yekast, Zidrolin: In den Regalen stapeln sich, fein säuberlich geordnet, die Schachteln mit Medikamenten. Kein Platz, der nicht ausgenutzt ist in diesem fensterlosen Raum in der Sozialklinik von Helliniko. Doch der Eindruck der Vollständigkeit täuscht, erklärt die Biologin Vasiliki Iliopoulou: Die Medikamente sind alle gespendet. Von PatientInnen, die ein Medikament absetzen konnten, weil sie es nicht mehr brauchten, oder weil sie vom Arzt ein anderes verschrieben erhielten. Auch aus dem Ausland kommt Unterstützung: Gerade gestern brachten zwei Studenten aus Genf Medikamente im Wert von 2000 Euro vorbei.
Vasilikis Arbeit besteht darin, die Haltbarkeitsdauer der gespendeten Medikamente festzustellen: «Wir prüfen jede einzelne Schachtel». Oft muss sie auch die Beipackzettel übersetzen, um die Wirkung eines Medikaments aus dem Ausland zu kennen. Iliopoulo zückt ihr Tablet: Über eine Google-Gruppe sind alle Sozialkliniken im Land miteinander verbunden. Fehlt einer Klinik ein Medikament, kann allenfalls eine andere liefern.
Millionen ohne Versicherung
Die Sozialklinik von Helliniko ist ein flacher Bau an der Endstation der Metro, einige Kilometer ausserhalb des Zentrums von Athen. Gegenüber erinnert das mit Gras überwachsene Baseballstadion für die Olympischen Spiele an bessere Zeiten. Die Klinik, im Dezember 2011 eröffnet, war eine der ersten ihrer Art, wie Rentnerin Maria Vamvakousi erzählt, die hier als Sekretärin wirkt. «Drei Millionen Menschen, mehr als ein Viertel der gesamten Bevölkerung, haben in Griechenland keine Krankenkasse. Und die MigrantInnen ohne Papiere sind in der Zahl noch nicht eingerechnet», sagt Vamvakousi. Die Krankenversicherung wird vom Lohn abgezogen. Verliert man seine Stelle, verliert man die Versicherung gleich mit.
Für das Heer der Unversicherten leisten die Sozialkliniken die medizinische Grundversorgung: Sie führen Untersuchungen durch, organisieren Laborproben, geben kostenlos Medikamente ab und Milch und Windeln für Babies. Zwar nehmen die öffentlichen Spitäler noch Notfälle und Schwerkranke auf, doch wird die Behandlung in Rechnung gestellt – ein Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Verschuldung beginnt.
George Vichas ist der Gründer der Sozialklinik. Der Arzt erinnert sich an den Anfang: «Ich ging zum Gemeindepräsident von Helliniko und bat ihn um ein Gebäude. Ich war ganz alleine, doch ich behauptete, ich hätte ein Team von DoktorInnen hinter mir.» Der Bürgermeister habe ihn gebeten, eine Woche später mit dem Team vorbeizukommen. Vichas rief seine KollegInnen an – zehn Ärztinnen sagten spontan zu und kamen mit. Heute arbeiten mehr als dreihundert Freiwillige für die Klinik, die meisten einige Stunden pro Woche, neben ihrer eigentlichen Tätigkeit. Es ist ein Engagement aus Solidarität, auf einen Lohn verzichten alle. Geld akzeptiert die Klinik weder vom Staat noch von Privaten. Um die Unabhängigkeit zu wahren, nimmt sie nur Sachspenden entgegen.
Unterversorgung führt zu Todesopfern
«In der Wirtschaftskrise haben einige Krankheiten erkennbar zugenommen: Herzkrankheiten, Krebs, Tuberkulose, Hepatitis, Aids», zählt Vichas auf. Dazu kommen psychische Probleme. Für den Arzt ist klar: «Die Krise macht die Menschen krank.» Und sie fordert Todesopfer. Von den dreihundert Krebskranken, welche die Klinik bisher behandelt hat, haben zwanzig ihr Leben verloren, weil sie zu lange nicht mit Medikamenten versorgt waren und die Behandlung zu spät kam.
Bei seinem Engagement leitet Vichas die ärztliche Ethik an, jedem Kranken zu helfen. Doch er betont, dass er die Solidaritätskliniken über den Hilfsgedanken hinaus als explizit politisches Engagement versteht: «Das Gesundheitssystem muss sich ändern in Griechenland, und zwar von Grund auf. Es braucht eine öffentliche Krankenversicherung für alle. Die Korruption in den Spitälern, befördert auch durch Pharmafirmen, muss gestoppt werden.» Wohl habe die neue Regierung von Syriza mit der Veränderung begonnen, doch bisher existiere sie bloss auf dem Papier. Ob es am Sonntag beim Referendum ein Ja oder ein Nein gibt: Der Bedarf an Medikamenten werde wegen der Unsicherheit hoch bleiben. Vichas plädiert für ein Nein: «Es braucht ein dringendes Signal gegen die Austeritätspolitik, die mit in diese Gesundheitskrise geführt hat.»
Draussen im Wartesaal sitzt Vicky Braouzo. Die Frau ist eine Stunde hergefahren, um die Medikamente für ihren an Diabetes erkrankten Mann zu beziehen. Die Braouzos sind ein typisches Beispiel für die Situation der Unversicherten: Der Mann ist arbeitslos, die Frau verdient mit Teilzeitjobs nur 300 Euro im Monat. «Ein Jahr lang konnten wir die Rechnungen für die Medikamente nicht mehr bezahlen.» Dann habe zum Glück die Sozialklinik hier eröffnet. «Die Leute sind sehr freundlich. Und auch sehr genau: Man kann sich hier nicht einfach mit Medikamenten bedienen kommen.»
Klinikgründer George Vichas erzählt zum Schluss, dass das Projekt vor wenigen Tagen vom Europäischen Parlament in Brüssel den «European Citizen’s Prize» für besonderes Engagement zur Integration von BürgerInnen erhalten habe. «Und in ein paar Tagen sind wir vielleicht gar keine BürgerInnen der Europäischen Union mehr.» Vichas, der bisher ruhig gesprochen hat, muss nun wirklich sehr laut lachen.
Alle bereits erschienenen Blogbeiträge finden Sie im Blog «Heisse Tage in Athen»