«Für eine öffentliche Krankenkasse»: Ein Ja für das gesündere Übel
Noch vor wenigen Monaten hiess es, dass «junge, gesunde Männer» besonders attraktiv seien – zumindest für Krankenkassen auf der Suche nach lukrativen Kunden. Und nun sind es auf einmal Frauen über 55, die besonders «attraktiv» sind – vorzugsweise solche, die im vergangenen Jahr mindestens drei Nächte in einem Spital verbrachten.
Schon erstaunlich, was für Kräfte eine Initiative wie diejenige «Für eine öffentliche Krankenkasse» auslösen kann. Da interessieren sich Scharen von bürgerlichen PolitikerInnen plötzlich brennend für eine bessere Behandlung von Frauen im reiferen Alter. Als ginge es ihnen um das Wohl dieser Menschen und nicht um das, was die eigentliche Triebfeder ihrer Kehrtwende ist: mit allen nur erdenklichen Mitteln zu verhindern, dass die obligatorische Krankenkasse eine öffentliche Angelegenheit wird.
Der Abstimmungskampf war von Anfang an ein taktisches Spiel beider Seiten. Aufseiten der SP, die die Initiative lanciert hat, wurde aufgrund der schlechten Erfahrungen bei der Abstimmung «Für eine soziale Krankenkasse» (2007) auf ein urlinkes Element verzichtet: auf einkommensabhängige Prämien. Die aktuelle Vorlage ist ganz und gar nicht revolutionär – zumal es sich dabei noch lange nicht um eine Verstaatlichung des Krankenversicherungswesens handelt, wie das die GegnerInnen so panisch behaupten.
Kurz vor Abpfiff soll nun ein vertrackter Kompromiss ein Ja zur Vorlage verhindern. In letzter Sekunde zustande gekommen ist ein Aufsichtsgesetz, das verwässerter nicht sein könnte. Damit bekommt das Bundesamt für Gesundheit zwar neue Eingriffsmöglichkeiten, so etwa gegen zu hoch oder zu tief angesetzte Prämien. Auch erhält die Aufsichtsbehörde künftig Einblick in Transaktionen zwischen Grundversicherern und anderen Unternehmen. Nicht durchgesetzt hat sich aber zum Beispiel die vom Bundesrat vorgeschlagene Aufsicht über Versicherungsgruppen. Hinzu kommt: Nahezu unbemerkt hat die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat vergangene Woche die Aufhebung der freien Arztwahl beschlossen – ausgerechnet jene «Wahlfreiheit», von der sie behauptete, die öffentliche Krankenkasse würde sie bedrohen.
Und dazu nun also ein Risikoausgleich, der die ärgsten Perversionen zwar mildert, letztlich das Ganze aber nur noch komplizierter macht. Und damit auch absurder. Wer meint, mit der permanenten Verfeinerung des Risikoausgleichs sei das perverse Spiel zu Ende, täuscht sich. In einem Pseudowettbewerb wie dem unter den Krankenversicherern wird der Mensch auch so weiterhin «Risikogruppen» zugeteilt. Es braucht nur wenig, und schon ist man ein «Risikofaktor». Mal sind es junge Männer, mal ältere Damen.
In dieser Logik verkehrt sich der Zweck einer Krankenversicherung, der darin bestehen sollte, jedem Menschen in diesem Land einen würdigen Mindeststandard an medizinischer Behandlung zu sichern, in sein Gegenteil: Der Zweck des ökonomischen Gewinns heiligt die falsche, fehlende oder gar überflüssige Behandlung.
Selbst wenn Gesundheitsminister Alain Berset bis kurz vor Schluss behänd an der Risikoausgleichsschraube drehte und am Ende gar fast noch ein veritables Aufsichtsgesetz unter Dach gebracht hätte: Das menschenverachtende Prinzip bliebe das gleiche.
Am Sonntag wird sich nun zeigen, welche Taktik siegreich aus dem Abstimmungskampf hervorgehen wird: die der GegnerInnen einer öffentlichen Krankenkasse, auch wenn der Preis, den sie dafür bezahlen, relativ hoch wäre; die der BefürworterInnen, falls sie überraschenderweise gewinnen sollten – oder am Ende, egal wie die Abstimmung ausgeht, eben doch vor allem der Pragmatismus von Gesundheitsminister Berset, dem Magister des kleineren Übels?
Bei all den taktischen Spielzügen, die eine ehrliche Auseinandersetzung unmöglich gemacht haben: Die StimmbürgerInnen haben diesen Sonntag die Möglichkeit, ein entschiedenes Ja in die Urne zu legen, frei von aller Taktik. Nichts Revolutionäres zwar, aber immerhin ein Ja für eine bessere, sozialere und volkswirtschaftlich plausiblere Krankenversicherung. Ein Ja für das kleinere Übel.