Prostitution: «Sexarbeiterinnen wollen nicht gerettet werden»
Die US-amerikanische Journalistin und ehemalige Sexarbeiterin Melissa Gira Grant kritisiert in ihrem Buch «Hure spielen. Die Arbeit der Sexarbeit» die Trennung von legitimer und illegitimer Ökonomie und macht sich stark für die Arbeitsrechte von SexarbeiterInnen.
WOZ: Frau Grant, die Debatte um Prostitutionsgesetze, Verbote und die Bestrafung von Freiern wird immer sehr emotional geführt. Warum ist das so?
Melissa Gira Grant: It’s deep stuff, wie wir im Englischen sagen würden. Die fundamentalste Frage ist doch: Warum beharren wir darauf, dass Sex zu wertvoll ist, als dass eine Frau jemals einen Preis dafür nennen könnte? Für mich gehört es zum Aufwachsen im Patriarchat, sich mit dem Stigma gegen Sexarbeiterinnen auseinanderzusetzen. Das Stigma der «Hure» ist grundlegend für alle anderen Formen von Sexismus und Misogynie, die Frauen in unserer Kultur erfahren.
Sexarbeiterinnen, die sich öffentlich gegen Verbote äussern, wird nicht zuletzt aus feministischen Kreisen oft fehlendes Bewusstsein für ihre Ausbeutung vorgeworfen.
Durch die Aussagen solcher Leute wird das Stigma noch verstärkt. Sie behaupten zum Beispiel, niemand würde dieser Arbeit freiwillig nachgehen, oder sie vertreten die Meinung, Männer könnten mit Sexarbeiterinnen alles anstellen, was sie wollten – bis hin zur Vergewaltigung. Es schmerzt mich, dass ausgerechnet Feministinnen den Sexarbeiterinnen gar nicht richtig zuhören, dass sie nicht ernst nehmen, was andere über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt zu sagen haben. Man muss einer Person glauben, wenn sie sagt: «Das war sexuelle Gewalt.» Ebenso wie man ihr Glauben schenken muss, wenn sie das Gegenteil sagt.
Woher kommt das Argument, dass niemand freiwillig Sexarbeit machen würde?
Viele Menschen verstehen nicht, dass Sexarbeit nicht einfach eine Form von Sex ist, sondern eine Form von Arbeit. Wer sich wirklich um die Lebensumstände dieser Menschen und um ihre Gesundheit sorgt, muss auch akzeptieren, dass sie aus denselben Gründen der Sexarbeit nachgehen wie Menschen in anderen Arbeitsbereichen: Sie müssen ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Nur die wenigsten Leute können dabei das tun, was sie lieben. In den USA gibt es keinen richtigen Wohlfahrtsstaat – selbst wenn man einen Job hat, reicht der Verdienst oft nicht zum Überleben. Gerade die Arbeitsbereiche, die zurzeit am schnellsten wachsen, zeichnen sich durch schlechte Löhne und ungeregelte Arbeitszeiten aus: Verkauf etwa oder die sogenannte Care-Arbeit: Kranke pflegen, Kinder betreuen, den Haushalt für sich und andere machen.
Dennoch wehren sich viele Prostitutionsgegnerinnen grundsätzlich dagegen, Sexarbeit als Arbeit zu bezeichnen.
Ich verstehe nicht, wie man das tun kann, immerhin beschert sie den Frauen ein Einkommen. Auch die internationale Arbeitsorganisation der Uno betrachtet Sexarbeit als Arbeit. Tatsache ist doch: Sexarbeit ist ein schwieriger Job – man ist Diskriminierungen ausgesetzt, wird von der Polizei verhaftet, als Ausgestossene betrachtet. Wenn Menschen trotz all dieser negativen Begleiterscheinungen immer noch Sexarbeit wählen, dann sind ihre Alternativen wohl auch nicht so toll. Wer also behauptet, Sexarbeit sei keine Arbeit, argumentiert aus einer moralischen Warte und will ganz einfach nicht über Arbeitsrechte sprechen.
Sprechen wir also über Arbeitsrechte.
Meine Meinung ist: Kein Job ist ein guter Job, solange sich die Arbeiterinnen nicht organisieren können. Erst wenn die Leute ihre Arbeitsrechte durchsetzen können, wird Arbeit zu guter Arbeit. Das gilt auch für die Sexarbeit. Es ist völlig unrealistisch, zuerst die Sexarbeit abschaffen zu wollen und sich um alles andere später zu kümmern. So wird Sexarbeiterinnen folgende Botschaft vermittelt: Es ist uns wichtiger, dass du diesen Job überhaupt nicht machst. Dass du deine Familie ernähren kannst, interessiert uns erst an zweiter Stelle.
Könnte man Sexarbeit nicht auch als eine Form von Care-Arbeit betrachten?
Das ist eine sehr reizvolle Betrachtungsweise. Es gibt einige Parallelen: Care-Arbeit wird immer als Frauenarbeit verstanden, als Arbeit, die wir aus Liebe tun und weil es in unserer Natur liegt. Daher sollten wir auch nicht erwarten, dafür bezahlt oder hoch angesehen zu werden. Entsprechend gering geschätzt und bezahlt werden jene, für die Care-Arbeit ein Brotjob ist.
Und was bedeutet das jetzt für die Diskussion um Arbeitsrechte?
Ich informiere mich zurzeit darüber, wie sich Hausangestellte organisieren, um von ihnen zu lernen, wie sich Sexarbeiterinnen organisieren könnten. Ihre Argumente sind bestechend: «Wir kümmern uns um eure Kinder, pflegen eure kranken Eltern, wir bauen eine intime Beziehung zu ihnen auf – also liegt es auch in eurem Interesse, dass unsere Rechte respektiert werden, dass wir Zugang zur Gesundheitsversorgung haben.» Noch habe ich aber nicht herausgefunden, wie eine entsprechende Argumentation bei der Sexarbeit lauten könnte.
Dabei ist es doch interessant, wie fliessend die Grenzen sind. Eine sogenannte Berührerin, die sexuelle Dienstleistungen für Behinderte anbietet, wird meist nicht als Prostituierte betrachtet.
Und doch sehen sich manche von ihnen vielleicht selbst als Sexarbeiterin. Fliessend sind die Grenzen auch in anderen Bereichen, beispielsweise im Tourismus: Hostessen in einer Bar oder Touristenführer treffen oft auf Kunden, die bereit sind, für Sex noch etwas mehr zu bezahlen. In der Sexarbeit hingegen werden meist viel klarere Grenzen gezogen, was zum Service gehört und was nicht. Eine Sexarbeiterin setzt einen Preis dafür fest, eine Stunde lang so zu tun, als sei sie die Freundin des Kunden. Wenn sie mit ihm auch noch essen gehen soll, dann kostet das extra.
Sie waren früher selbst Sexarbeiterin und arbeiten heute als Journalistin. Konnten Sie sich so mehr Gehör und Glaubwürdigkeit verschaffen?
Ich habe mich bewusst dafür entschieden, mit «Hure spielen» keine Memoiren, sondern ein politisches Buch zu schreiben. Weil mir klar war: Sobald meine persönlichen Erfahrungen auf dem Tisch liegen, wird darüber diskutiert werden, ob meine Meinung gültig ist oder nicht. Dass so die Meinung von Leuten, die selbst nie Sexarbeit gemacht haben, mehr Wertschätzung erfährt als meine eigene, finde ich völlig inakzeptabel, weil es nämlich auf der Annahme basiert, dass mich die Arbeit so geschädigt hat, dass ich als Sexarbeiterin gar keine gültige Meinung haben kann. Und das ist ein sehr gefährlicher Weg, um sich dem Leben anderer Menschen anzunähern.
In Ihrem Buch verwenden Sie den Begriff der Rettungsindustrie. Was meinen Sie damit?
Die Analyse der Rettungsindustrie kommt von Laura María Augustín, einer Anthropologin, die in Britannien während zwanzig Jahren zu Sexarbeit, Migration und informeller Arbeit geforscht hat. Sie hat dieses Konzept in ihrem Buch «Sex at the Margins» geprägt. Wenn ich von Rettungsindustrie spreche, dann meine ich Leute, die einen beruflichen Vorteil daraus ziehen, Praktiken und Regulierungen zu unterstützen, die Sexarbeiterinnen gefährden.
In diese Kategorie gehören für mich auch Journalisten, die Polizei oder Politikerinnen. Ein Politiker, der ein hartes Vorgehen gegen Sexarbeit unterstützt, findet Unterstützung über das gesamte politische Spektrum hinweg und schlägt daraus bei den Wahlen Profit. Es ist eine simple Rechnung, und sie geht meistens auf, denn kaum jemand steht auf und widerspricht ihm in aller Öffentlichkeit.
Was ist mit Organisationen, die Sexarbeiterinnen Alternativen bieten wollen?
Sie meinen Projekte, mit denen Frauen aus der Sexindustrie abgezogen und in irgendwelchen Dienstleistungsprogrammen platziert werden? Solche Rettungsprojekte können viel Schaden anrichten, denn sie kümmern sich nicht um die wirklich wichtigen Belange wie Gewalt und Ausbeutung, denen Menschen in der Sexindustrie ausgesetzt sind. Sie gehen davon aus, dass Sexarbeiterinnen per se keine Wahlmöglichkeiten haben und über keine Handlungsmacht verfügen. Es geht ihnen allein darum, Sexarbeiterinnen zu «retten», und nicht darum, sie zu befähigen, an Mittel und Ressourcen zu gelangen, um ihr Leben selbst kontrollieren und kollektiv zusammenarbeiten zu können.
Noch immer ist es viel schwieriger, ein Projekt zu starten, das die Arbeitsrechte von Sexarbeiterinnen unterstützt. Die Lösungen, die die Rettungsindustrie parat hält, verstärken bloss die Kriminalisierung, nehmen den Sexarbeiterinnen noch mehr Macht weg und drängen die Sexindustrie weiter in den Untergrund …
… wie es zum Beispiel in Schweden der Fall ist, wo es ein Sexkaufverbot gibt.
Verschiedene Sexarbeiterinnen aus Schweden berichten in der Tat, dass es für sie seit der Einführung des Sexkaufverbots gefährlicher geworden ist. Wir müssen ihnen zuhören und sie ernst nehmen, so wie wir Politikerinnen, Polizisten oder Frauenrechtlerinnen ernst nehmen. Sie erleben die Realität dieser Gesetze hautnah. Ihre Stimmen zu missachten, ist inakzeptabel.
Das Gesetz wird in Schweden als wichtiger Schritt zur Gleichstellung der Geschlechter gefeiert.
Offensichtlich ist vielen Leuten die Absicht hinter dem Gesetz wichtiger als seine tatsächlichen Auswirkungen im Alltag.
Im Alltag gibt es ja auch männliche Sexarbeiter, aber von ihnen ist nur sehr selten die Rede. Liegt das daran, dass sie zahlenmässig eine kleine Gruppe sind?
Erstens gibt es mehr männliche Sexarbeiter als gemeinhin angenommen – das belegen Studien. Zweitens haben wir kaum Anstrengungen unternommen, männliche Sexarbeit überhaupt zu verstehen. Nicht dass besonders viel in ein besseres Verständnis weiblicher Sexarbeiterinnen investiert worden wäre, aber sie faszinieren uns viel mehr. Doch Faszination bedeutet nicht, dass wir sie verstehen wollen. Sie funktioniert vielmehr wie eine Art Verlängerung der Sexarbeit.
Wie meinen Sie das?
Viele Menschen sind nicht fähig, sich auf eine Sexarbeiterin zu beziehen, ausser über ihre eigene sexuelle Assoziation und die Projektion ihrer Fantasie.
Das entspricht ziemlich genau der Dienstleistung, die Sexarbeiterinnen erbringen …
Aber es ist nicht die Art von Dienstleistung, die sie auch ausserhalb ihrer Arbeitszeit erbringen wollen.
Melissa Gira Grant
Die freie Journalistin Melissa Gira Grant, geboren 1978, lebt in New York. Sie schreibt unter anderem für «The Nation», «The New York Times» und «The Guardian» über Sex, Politik und Technologie.
Während ihrer früheren Tätigkeit als Sexarbeiterin engagierte sich Grant in der Exotics Dancers Union sowie in der St. James Infirmary in San Francisco, der einzigen medizinischen Anlaufstelle in den USA von und für SexarbeiterInnen.
Grants Buch «Hure spielen. Die Arbeit der Sexarbeit» ist 2014 auf Deutsch in der Edition Nautilus erschienen. Am 15. Oktober liest sie um 20 Uhr im «Les Complices*» an der Anwandstrasse 9 in Zürich.