Schweizer Kurdinnen und Kobane: «Der IS ist eine Bedrohung für die ganze Welt»
Der Terror des sogenannten Islamischen Staats (IS) in Syrien und im Irak schweisst KurdInnen und türkische linke Gruppierungen zusammen. Auch in der Schweiz. Vier Gespräche mit Schweizer KurdInnen.
Mahir Sayin sitzt im Hinterzimmer der Buchhandlung Özgür in Basel, vor sich eine Reliefkarte von Kobane. Er erklärt den Verlauf der Kämpfe. «Heute bin ich glücklich», sagt er. «Seit die USA ihre Angriffe aus der Luft auf die IS-Truppen massiv verstärkt haben, konnten die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer Teile der verlorenen Gebiete zurückgewinnen. Kobane wird nicht fallen.» Mahir Sayin bezieht seine Informationen nicht bloss aus der Presse. Er telefoniert direkt in die umkämpfte Stadt und ins angrenzende türkische Gebiet. Ein kurdischer Freund aus Deutschland, ein Soziologe, ist nach Kobane gegangen, um zu kämpfen.
Der 65-jährige Politaktivist ist auch sonst gut vernetzt mit kurdischen Organisationen und der Linken in der Türkei. Er kennt sich aus mit den innerkurdischen Konflikten. Die kurdische Arbeiterpartei PKK, von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft, erscheint heute als Hort des Guten und Heldenhaften. Auch das ist ein Werk des IS. Und der nordirakischen Oligarchen. Denn nicht die Peschmerga, sondern die geübten KämpferInnen der PKK eilten den bedrohten Menschen zu Hilfe und öffneten einen Korridor für die eingeschlossenen Jesiden. Mahir Sayin muss man diese Geschichten nicht erzählen, er kennt sie besser als viele andere. «Ich versuche, objektiv zu sein, nüchtern zu analysieren, aber ich stehe auf der Seite der Kurden, auf der Seite der Minderheiten.» Sayin ist auch ein entschiedener Gegner des türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdogan, den er für einen der grössten Lügner hält und der alle gegen alle auszuspielen versuche. Auch die KurdInnen untereinander.
Ethnische und religiöse Vielfalt
Sayin ist der lebende Widerspruch zu dem, woran der türkische Staat seit seiner Gründung krankt, nämlich an eingebildeter ethnischer Homogenität: Sayin ist halb Lase, halb Armenier, die Grossmutter war Kurdin. Die Türkei ist ethnisch nicht bloss türkisch und religiös nicht nur sunnitisch. Als führender Linker war er in der bürgerkriegsähnlichen Zeit zwischen den Militärputschen von 1971 und 1980 mehrfach angeklagt und verhaftet worden. Ende der achtziger Jahre floh er über Syrien, den Libanon, Schweden, Frankreich und Deutschland in die Schweiz.
Längst ist er Schweizer Bürger, die Türkei hat ihm die Staatsbürgerschaft aberkannt. «Erdogan versuchte, in der Region eine neoosmanische Einflusssphäre zu schaffen. Und ist kläglich gescheitert. Heute ist die Türkei isoliert.»
Die Türkei habe sich innenpolitisch verändert. Die linken, ökologischen und gesellschaftlich aufgeschlossenen Kräfte haben sich zusammen mit prokurdischen Parteien in der Demokratischen Partei der Völker (HDP) zusammengeschlossen. «Mich erinnert das Vorgehen der türkischen Regierung gegen die anfänglich friedlichen Proteste der Kurden an die achtziger Jahre: Sicherheitskräfte, alte Faschisten und neue islamistische Faschisten haben die Gewalt provoziert.» Doch nun sei die Ausgangslage innenpolitisch anders: «Heute kämpfen Türken neben Kurden gegen den IS, und sollte die türkische Regierung den Friedensprozess mit den Kurden und allen anderen Minderheiten nicht ernsthaft fortsetzen, droht ein Bürgerkrieg, der anders sein wird als der letzte, denn nun würden auch Türken an der Seite der Kurden kämpfen.»
Anerkennung für die PKK
Spricht man in diesen Tagen mit Schweizer KurdInnen, ist ihr Blick auf den Kampf ihrer Schwestern und Brüder in Kobane gerichtet. Ein Kampf der Guten gegen das Böse. Die Bedrohung durch die Schlächter des IS schweisst zusammen. Eine solche Stimmung unter den KurdInnen, sagt Mustafa Atici, SP-Grossrat aus Basel, habe er noch nie erlebt: «Jeder, ob alt oder jung, fragt sich: Was kann ich tun, um meinen Schwestern und Brüdern in Syrien und im Irak zu helfen?» Persönlich kennt er zwar niemanden, aber er kann nachvollziehen, wenn junge Männer in Kobane kämpfen wollen. Man dürfe auch nicht vergessen, dass in den nach schweizerischem Vorbild geschaffenen Kantonen in Syrien alle Ethnien und Religionen friedlich zusammenlebten und sich einbringen könnten.
Diese Stimmung sei auch an der Demonstration in Basel Anfang Oktober gegen den IS-Terror sicht- und spürbar gewesen: «Alle waren da, auch türkische linke Gruppierungen.» Die politischen und weltanschaulichen Gräben, die es noch vor wenigen Jahren gegeben habe, seien heute weitgehend zugeschüttet. Man kenne sich, auch unter kurdischstämmigen Schweizer PolitikerInnen, er verkehre auch in kurdischen Kulturvereinen, die der PKK nahestehen.
Atici anerkennt das rasche Handeln der PKK und der ihr nahestehenden syrischen Partei der Demokratischen Union (PYD). «Sie haben ohne Zögern gegen den IS gekämpft und die Zivilbevölkerung geschützt, ungeachtet ihrer Religion oder Ethnie.» Mustafa Atici setzt auf das Gemeinsame, das bringe die kurdische Sache voran.
Atici, der 1992 in die Schweiz emigrierte und in Basel als Unternehmer tätig ist, erwartet wie seine Partei, die SP, von der Schweiz, dass sie ihre humanitäre Hilfe in Syrien und im Irak verstärkt; der Bundesrat solle bei der Uno und anderen internationalen Organisationen intervenieren. Und der Bundesrat müsse die mit der Türkei 2013 ausgerufene «strategische Partnerschaft» nicht bloss wirtschaftlich interpretieren, vielmehr solle er sie als Hebel nutzen, damit die türkische Regierung kurdischen KämpferInnen ermöglicht, sich dem Kampf um Kobane anschliessen zu können.
Weltweite Demonstrationen
Der Jurist Mazlum Iscen kam im Alter von sechs Jahren aus dem Südosten der Türkei in die Schweiz. Er gehörte zu den OrganisatorInnen der Demonstration gegen den IS-Terror in Basel am 11. Oktober, für die über 5000 Menschen auf die Strasse gingen. Am 1. November soll weltweit gegen den IS-Terror demonstriert werden, auch in der Schweiz. «Namhafte Persönlichkeiten werden dazu aufrufen», sagt Iscen. «Denn der IS bedroht nicht nur uns Kurden, diese Extremisten sind eine Bedrohung für die ganze Welt.» Dennoch hält er ein IS-Verbot nicht für klug. Man müsse Wege finden, verführte junge Leute wieder zu integrieren. Europa müsse sich entschlossen gegen den IS engagieren und dabei geschickt vorgehen, «sonst haben wir diese Schlachtfelder bald in Europa». Ausserdem müssten sich die religiösen Führer der Muslime immer wieder deutlich gegen diese fanatische Sekte stellen.
Der Kampf um Kobane eine die KurdInnen. Das Ansehen der PKK und der PYD sei wegen ihres entschlossenen Kampfs gegen den IS sehr hoch. «Das hat eine Sympathiewelle ausgelöst.» Die Zeit der Nationalstaaten sei vorbei. Die KurdInnen wollten ihre eigene Sprache sprechen, nicht mehr benachteiligt werden. «Diese dynamische Bewegung aus der Bevölkerung ist nun die entscheidende Kraft. Ich glaube, diese Bewegung lässt sich nicht mehr aufhalten.» Das sollte auch die türkische Regierung zur Kenntnis nehmen. Iscen zitiert ein Sprichwort: Kurden, Türken, Armenier, Assyrer – alle können sie ohne Pass leben, aber nicht ohne Wasser und Brot.
Auch Edibe Gölgeli spürt die starke Solidarität unter den KurdInnen. Die Basler SP-Bürgergemeinderätin setzt sich für Direkthilfe für die Flüchtlinge in der Türkei ein. «Der Winter steht bevor. Wir müssen handeln. Wie das Erdbeben in Van im Jahr 2011 gezeigt hat, können kurdische Gemeinden kaum damit rechnen, dass Hilfsmittel sie erreichen, die über die türkischen Behörden und Hilfsorganisationen laufen. Daher ist Direkthilfe wichtig, zum Beispiel über die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit oder den Kurdischen Halbmond.»
Die USA und die EU müssten hinsichtlich der PKK umdenken, sagt Gölgeli. «Ich bin keine PKK-Aktivistin, aber allen sollte klar sein, dass sie zusammen mit der Demokratischen Partei der Völker die dominante politische Kraft in der kurdischen Bewegung ist. Das konnte man auch an der Demo in Basel an den vielen Öcalan-Konterfeis sehen. Die PKK hat sich gewandelt. Wer politisch etwas bewegen will, muss auch mit ihr verhandeln.»
Und dann sagt Edibe Gölgeli etwas, das paradox klingt: «Mit dem IS haben wir Kurden erstmals einen interessanten Gegner. Früher hatten wir Kurden schlechte Schlagzeilen, wir wurden gleichgesetzt mit Terror und Krieg. Jetzt haben wir erstmals positive Schlagzeilen. Nun sieht die Welt, dass in Syrien Kurden Gebiete geschaffen haben, in denen alle Minderheiten respektiert werden. Und dass die Kurden gegen wirkliche Terroristen entschlossen kämpfen.»
Siehe auch «Die AKP will uns Kurden tot sehen».