Türkei: Die demokratische Revolution – ein Traum

Nr. 14 –

Salih Mahir Sayin lebt im Schweizer Exil und macht von hier aus in der Türkei linke Politik. Nun ist er – wie viele weitere türkische DissidentInnen – in seiner Heimat angeklagt.

Seit 27 Jahren lebt Salih Mahir Sayin in der Schweiz – «in der Verbannung», wie er es nennt. «Ich bin hier zwar frei, kann tun und lassen, was ich will», sagt Sayin, nur in die Türkei reisen könne er nicht. «Sie haben mich ausgesperrt, mich von der Politik meines Heimatlands abgeschnitten.» Das sei schwer zu ertragen. Er fühle sich blockiert, bestraft: «Ich bin zwar Schweizer und lebe gut hier, aber ich möchte auch in meine Heimat reisen können.»

Geboren ist der 63-Jährige in Rize, einer Stadt an der türkischen Schwarzmeerküste, mitten im grünen Teeparadies. Scherzhaft nennt er sich einen «echten Türken»: Denn nur wer wie er halb Lase, halb Armenier sei und noch dazu eine kurdische Grossmutter habe, könne in Anatolien als richtiger Türke gelten. Der fröhliche Mann mit den unbändigen Locken und der Baskenmütze hat kein Verständnis für das häufig übersteigerte Nationalgefühl seiner Landsleute, von denen viele die ethnische und religiöse Vielfalt der Türkei bis heute leugnen.

Als tragendes Mitglied der marxistisch-leninistischen Befreiungsbewegung Kurtulus Hareketi war Sayin in der bürgerkriegsähnlichen Zeit zwischen den Militärputschen 1971 und 1980 mehrfach angeklagt und verhaftet worden. Ende 1980 floh er über Syrien, den Libanon, Schweden, Frankreich und Deutschland in die Schweiz. Erst im Jahr 2007 waren die Anklagen verjährt, und er konnte erstmals wieder in seine Heimat reisen. Allerdings als Schweizer. Denn im Jahr 2002 hatte ihm die türkische Regierung die Staatsbürgerschaft aberkannt – ohne Begründung.

Eine linke Alternative

«Und immer noch liegt die Türkei mir am Herzen», sagt der gelernte Systemingenieur. Nicht nur weil er dort aufgewachsen sei und ein Grossteil seiner Familie dort lebe. Auch weil er weiterhin aktiv in der türkischen Politik mitmische. Und seit den letzten Parlamentswahlen im Juni 2011 gebe es in der Linken endlich Bewegung. Damals hatten sich siebzehn kleinere Parteien zu einem Block zusammengeschlossen, der inzwischen den Namen Demokratischer Kongress der Völker (HDK) trägt.

Im Exil ist Sayin heute als Berater für die Sozialistische Arbeiterpartei (Iscilerin Sosyalist Partisi, SP) tätig, die ebenfalls dem HDK beigetreten ist. Er sieht in der Blockbewegung eine Alternative zur Politik der konservativ-religiösen Regierungspartei AKP und auch zur Politik der grössten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP). «Unser Block vertritt heute zwischen achtzig und neunzig Prozent der Linken in der Türkei», sagt der überzeugte Sozialist. Nur drei linke Organisationen – der ehemalige Revolutionäre Weg (Devrimci Yol), die Partei der Freiheit und Solidarität (ÖDP) und die Türkische Kommunistische Partei (TKP) – hätten sich dem Block nicht angeschlossen. In der Parlamentswahl vom Juni 2011 habe der HDK einen grösseren Stimmenzuwachs verzeichnet als die fünfmal grössere CHP, sagt Sayin.

«Das Hauptziel des HDK-Blocks ist die friedliche Lösung der Kurdenfrage», sagt Sayin. Dies sei der einzige Weg zur Demokratie in der Türkei. Und doch reiche es nicht, allein die Kurdenfrage zu klären, denn das derzeitige Regime diskriminiere nicht nur die KurdInnen: «Die Unterdrückung richtet sich gegen alle nichttürkischen Ethnien sowie gegen andere Minderheiten wie die religiöse Gruppe der Aleviten.» Allein die Aleviten sind an die zwanzig Millionen Menschen.

Die Mehrheit der in der Blockbewegung vereinigten Parteien fordere die Einrichtung einer richtigen Demokratie, betont der Ex-Revolutionär, am liebsten nach Schweizer Vorbild. «Föderale Strukturen, demokratische Gesetze, eine ehrliche Reform der Armee und der Sicherheitskräfte sowie die Gleichberechtigung der verschiedenen Sprachgruppen beispielsweise im Bildungssektor.» So stellt Sayin sich eine bessere Türkei vor.

Doch von der Regierungspartei AKP und Premierminister Recep Tayyip Erdogan sei so etwas kaum zu erwarten. Sayin hält Erdogan für einen professionellen Lügner: «Erst entschuldigt er sich bei den Kurden im Namen des Staates und kündigt eine Art demokratische Öffnung an. Und nur einen Monat später erklärt er, es gebe keine kurdische Frage – es gebe nur die Probleme einzelner kurdischer Brüder, wie er sie nannte.» Von einer kurdischen Bevölkerung sei danach nicht mehr die Rede gewesen.

Auch in Bezug auf die viel gepriesene Demokratisierung der Armee habe Erdogan die Menschen hinters Licht geführt. Die Regierungspartei AKP habe eigentlich nur unliebsame Querköpfe in der Armeeführung eliminiert. «Eine demokratische Kontrolle des Militärs sieht aber anders aus», sagt Sayin. Warum unterstützt trotzdem immer noch etwa die Hälfte der Bevölkerung Erdogan und seine Politik? Sayin antwortet mit einem türkischen Sprichwort: «Im Wasser hält der Nichtschwimmer sich sogar an einer Schlange fest.»

Anklage trotz mangelnder Beweise

Die Blockbewegung hat bereits seit den Wahlen mit grossen Problemen zu kämpfen: Gegen sechs der gewählten Abgeordneten wird in einem Prozess gegen die verbotene Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) wegen Terrorismusverdachts ermittelt. Die Angeklagten sitzen nun in Untersuchungshaft – das Parlamentsmandat des kurdischen Sozialisten Hatip Dicle wurde in einem rechtlich umstrittenen Verfahren annulliert, sein Parlamentssitz einer AKP-Abgeordneten zugesprochen. Nicht anders als in den neunziger Jahren wird den Abgeordneten vorgeworfen, die verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) zu unterstützen und die Spaltung der Türkei zu beabsichtigen.

Auch gegen Salih Mahir Sayin wird seit einem Jahr in Abwesenheit vor einem türkischen Gericht verhandelt (siehe WOZ Nr. 34/11). Ihm wird die Mitgliedschaft in einer anderen bewaffneten Untergrundorganisation vorgeworfen, dem sogenannten Revolutionären Hauptquartier, das erstmals 2008 mit Anschlägen in der Türkei in Erscheinung trat. «Nun gibt es einen Haftbefehl gegen mich. Unter den derzeit herrschenden politischen Bedingungen erwarte ich nicht, dass es schnell ausgestanden sein wird», sagt Sayin. So habe der letzte Gerichtstermin Anfang Februar keinerlei Fortschritt gebracht. Er hoffe jedoch, dass der Prozess vom Gericht vollständig zurückgewiesen werde, aus Mangel an konkreten Beweisen.

Sayins Prozess ist – wie auch die Prozesse gegen die KCK – eine der zahlreichen Anti-Terrorismus-Anklagen, die derzeit in der Türkei laufen. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erlaubt es eine äusserst breit gefasste Definition von Terrorismus der türkischen Justiz, jemanden fast ohne Beweise anzuklagen. Kritische Reden oder Schriften würden so leicht zum Motiv einer Anklage, sagt Sayin. RegierungspolitikerInnen liessen auf diese Weise unliebsame KritikerInnen aus dem Weg räumen. Mehrere Tausend von ihnen sitzen derzeit in Untersuchungshaft.