En passant: Ungeplanter Selbstversuch

Nr. 47 –

Ein sonniger Oktobermorgen am Stadtrand von Gallipoli im italienischen Apulien, kurz nach zehn. Ich radle Richtung Norden und liege plötzlich auf der Strasse: Ein Wagen hat mich überholt und beim Versuch gestreift, im spitzen Winkel in eine Seitenstrasse einzubiegen. Damit nicht genug: Der Mann (die Frau? Es ging alles so schnell!) fährt davon, ohne anzuhalten.

Der Rettungswagen ist schnell da. Der Wortführer des Teams, der ansteckende Ruhe ausstrahlt, macht mir Mut: Schlüsselbeinbruch sei der Klassiker im Radsport. Ich fühle mich vom ersten Augenblick an gut aufgehoben. Das bleibt auch so nach der Einlieferung in die Notfallabteilung des Ospedale Sacro Cuore di Gesù. Der Namensgeber hängt zwar hier und da gekreuzigt an der Wand, ansonsten geht es aber weltlich-sachlich zu. Dottore Rocco Melcore ist etwa sechzig, ein kleiner, drahtiger Grauhaariger und die Ruhe selbst.

Überhaupt entsteht in den folgenden vier Stunden, die ich in der Obhut des Heiligen Herzens Jesu verbringe, niemals Hektik. Es gibt viel Personal, und dass während und zwischen den einzelnen Untersuchungen viel Zeit vergeht, liegt vor allem am gemütlichen Arbeitstempo. Mir geht es gut bei dieser besonderen Art der Pflege. Gegen 14 Uhr 30 werde ich entlassen, genäht und bandagiert. Natürlich gibt es auch Schwachpunkte: Die Türen im keineswegs alten Gebäude sind zum Beispiel arg schmal – was beim Durchrollen zur nächsten Station mehrmals zu schmerzhaften Kollisionen führt. Lappalien! Die Behandlung ist gratis, und eine Gesundheitskarte will auch niemand sehen.

So könnte denn mein Bericht über einen klassischen Fall von Glück im Unglück hier enden, wenn die ganze Sache nicht auch eine politische Seite hätte. Denn was ich als angenehme Art medizinischer Betreuung erlebt habe, ist ein Auslaufmodell. Zumindest, wenn es nach den politischen Eliten in Italien und in der EU geht. Personal- und kostenintensive Dienstleistungen, nicht zuletzt im Gesundheitswesen, sollen modernisiert und marktkonform gemacht werden: durch Sparmassnahmen. Das meinen Angela Merkel und andere europäische SpitzenpolitikerInnen, wenn sie ein ums andere Mal «die nötigen Reformen» in Italien anmahnen. Ministerpräsident Matteo Renzi, der rastlose Modernisierer, arbeitet daran. Das wird deutlich, als ich in der Eingangshalle auf ein Taxi warte. Kopien von Zeitungsartikeln, die an der Wand hängen, informieren über geplante Einsparungen durch Personalabbau und die Schliessung ganzer Abteilungen.

Jens Renner berichtet nicht nur über Radunfälle 
für die WOZ aus Italien.