Altersreform 2020: Bessere Renten statt Mathematik
Bundesrat Alain Berset hat seinen definitiven Plan zur Sanierung der Altersvorsorge präsentiert. Was taugt er? Ein Kompass durch eine komplexe Reform.
In diesen Jahren gehen die BabyboomerInnen in Rente. Ohne Reform wird die AHV gemäss Bund ab 2030 jährlich Defizite von gut acht Milliarden Franken schreiben. Dass also ein gewisser Handlungsbedarf besteht, darüber herrscht weitgehend Einigkeit. SP-Bundesrat Alain Berset hat letzte Woche mit der Altersreform 2020 ein Paket an Massnahmen vorgelegt, wie er angesichts der demografischen Entwicklung die Altersvorsorge finanzieren will. Welche Rezepte gibt es? Welche Alternativen?
Man kann die AHV mit dem Blick eines Versicherungsmathematikers betrachten, so wie es Bürgerliche gerne tun: Drohe der AHV ein finanzielles Loch, so meinte etwa Jérôme Cosandey von der rechtsliberalen Denkfabrik Avenir Suisse im Schweizer Fernsehen, gebe es drei mögliche Wege, um es zu stopfen: erstens Leistungen kürzen, zweitens länger arbeiten und drittens mehr einzahlen.
Die Forderung nach einer Kürzung der Renten wagt selbst die Rechte nicht zu stellen. Es wäre ein politisches Selbstmordkommando. SVP, FDP und Wirtschaftsverbände plädieren stattdessen für eine Erhöhung des Rentenalters. Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler will die AHV gar ausschliesslich auf diesem Weg sanieren. Dahinter steckt ein Interesse, das so alt ist wie die industrielle Revolution: Je grösser das Arbeitskräfteangebot, desto tiefer die Löhne.
Sozialminister Alain Berset kommt der Rechten in dieser Frage nur beschränkt entgegen, indem er das Rentenalter der Frauen von heute 64 Jahren an jenes der Männer von 65 Jahren angleichen will. Das soll die AHV um gut eine Milliarde Franken entlasten. Die fehlenden sieben Milliarden will Berset durch Mehreinnahmen wettmachen, das heisst durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer.
Eine Rentenkürzung fordert die Rechte allerdings in der zweiten Säule, den Pensionskassen, durch die Senkung des Umwandlungssatzes. Diesen will zwar auch Berset senken, allerdings will er die Renten erhalten, indem die Beiträge erhöht werden.
Umverteilung wird untergraben
Die zweite Säule, in der alle nur so viel einzahlen, wie sie am Ende auch zurückerhalten, folgt tatsächlich ausschliesslich einer versicherungsmathematischen Logik. Einer der Kerngedanken der AHV ist jedoch die soziale Umverteilung: Alle Erwerbstätigen geben denselben Lohnanteil in die AHV ab – Reiche zahlen deshalb mehr ein als KleinverdienerInnen –, aber die Rente ist auf maximal 2340 Franken beschränkt.
Die Verteilungsfrage ist auch ein Kernpunkt der aktuellen Reform. Ist es gerecht, dass Frauen gleich lang arbeiten sollen wie Männer, obwohl sie auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor krass weniger verdienen? Nein, sagen Gewerkschaftsbund (SGB) und Grüne, sie lehnen die Massnahme deshalb ab. Die SP derweil knüpft ihr Einverständnis an die Bedingung, dass der Bundesrat «griffige Massnahmen» zur Lohngleichheit ergreift.
Berset verzichtet in seiner Reform zwar auf Leistungskürzungen und auf eine allgemeine Rentenalterserhöhung, doch auch die Anhebung der Mehrwertsteuer hat soziale Auswirkungen. Anders als die Lohnbeiträge, mit denen die AHV bis heute grösstenteils finanziert wird, wirkt sie degressiv: Leute mit geringem Einkommen tragen vergleichsweise stark zum Steueraufkommen bei, da sie einen grösseren Teil ihres Einkommens für Konsum ausgeben als Reiche.
Die AHV würde zwar auch dann umverteilen, wenn sie zum Teil durch die Mehrwertsteuer finanziert würde. Der Umverteilungsgedanke würde jedoch ein Stück weit ausgehöhlt.
Die Stärkung der AHV
Eine Alternative bietet indes die Initiative für eine nationale Erbschaftssteuer der SP, über die nächstes Jahr abgestimmt wird. Sie verlangt, dass zwei Drittel der daraus gewonnenen Erträge der AHV zufliessen. Die Forderung berührt eine Kernfrage unserer Zeit, wie sie der französische Ökonom Thomas Piketty dargelegt hat: Einerseits wird es immer schwieriger, mit den Löhnen der Erwerbstätigen den Lebensunterhalt aller bis zu ihrem Tod zu finanzieren. Andererseits waren die Vermögen noch nie so gross. Jede erwachsene Person in der Schweiz besitzt gemäss Credit Suisse im Schnitt eine halbe Million Franken. Allerdings ist das Vermögen in praktisch keinem anderen Land derart ungleich verteilt wie in der Schweiz. Die Hälfte der Leute besitzt so gut wie nichts. Warum einen Teil des Erbschaftsvermögens nicht dazu verwenden, um die Renten zu finanzieren?
Ohnehin stellt sich die Frage, wie sozial die heutige Altersvorsorge überhaupt ist. Ein alleinstehender Elektromonteur, der vor seiner Pensionierung 5500 Franken verdient, erhält heute eine Rente aus AHV und Pensionskasse von gerade einmal 3150 Franken, wie der SGB kritisiert. Er hat deshalb die Initiative AHV plus lanciert, die voraussichtlich 2016 zur Abstimmung kommt. Die Forderung: Die AHV-Renten sollen um zehn Prozent steigen.
Für den Elektromonteur würde das eine Rentenerhöhung von 200 Franken im Monat bedeuten. In einer Zeit, in der sich wegen Existenzängsten viele von der Welt abschotten wollen, wären stabile Renten eine Grundbedingung, damit sich das Land nach aussen wieder zu öffnen wagt.