Durch den Monat mit Markus Christen (Teil 1): Stört es Sie, wenn ich frage, ob Sie arm sind?

Nr. 49 –

Der «Surprise»-Verkäufer Markus Christen führt BesucherInnen auf «sozialen Stadtrundgängen» durch Basel. Er erklärt, warum es nicht dem Voyeurismus zudient, Institutionen für Arme zu zeigen.

Markus Christen: «Armut ist das Bewusstsein, dass die Gesellschaft an einem vorbeilebt.»

WOZ: Herr Christen, Sie führen Interessierte auf «sozialen Stadtrundgängen» durch Basel und besuchen mit ihnen Institutionen für Armutsbetroffene. Ist es nicht zynisch, in der reichen Schweiz Arme zu präsentieren?
Markus Christen: Nein. Wir zeigen ja nicht die Armen, sondern die Institutionen, die ihnen einen rudimentären Rahmen bieten, um zu überleben. Natürlich gibt es Berührungspunkte mit den Betroffenen auf den Führungen, zum Beispiel im Tageshaus für Obdachlose.

Ist das nicht unangenehm für die Betroffenen?
Die Institutionen sind informiert, wann wir kommen. Wer nicht gesehen werden will, kann für die zehn Minuten, die wir dort sind, rausgehen. Im ersten halben Jahr haben die Obdachlosen oft Bemerkungen gemacht wie «Jetzt kommen wieder die Sozialvoyeure!» oder «Geht doch in den Zoo!». Einer motzte jedes Mal, bis er einmal blieb und mir zuhörte. Als ich fertig war, ergänzte er meine Ausführungen, das hat mich gefreut. Seither grüsst er mich und die Gruppe immer freundlich. Viele Betroffene und Institutionen haben gemerkt, dass die Führungen positiv für sie sind, da wir ihre Interessen an die Öffentlichkeit tragen.

Gibt es tatsächlich solche «Sozialvoyeure»?
Ja, einmal fragte einer: «Wann sehe ich jetzt Obdachlose?» Ich sagte, es sei nicht unsere Aufgabe, Leute vorzuführen, sondern zu zeigen, wie Armut im Alltag aussieht.

Und: Wie sieht Armut in der Schweiz aus?
Es sind mehr Leute betroffen, als man meint. Viele versuchen, ihre Situation zu verheimlichen. Das wollen wir auf den Stadtrundgängen durchbrechen. Armut ist real. Sie darf nicht im stillen Kämmerlein verborgen bleiben.

In der Schweiz leben mehr als eine Million Menschen in prekären finanziellen Verhältnissen. Warum sieht man die Armut kaum?
Unter anderem gibt es eine subtile Verdrängung seitens der Behörden. Arme sollen dort nicht auftauchen, wo die Öffentlichkeit ist. An Bahnhöfen werden sie mit Kontrollen verscheucht. Durch sogenannte bauliche Massnahmen werden sie aus den Zentren verdrängt. In Basel gibt es etwa eine neue Art Sitzbänke. Sie sehen filigran aus, aber Journalisten haben herausgefunden, dass der Auftrag der Stadt an den Lieferanten war, die Sitzflächen so zu gestalten, dass es sich möglichst schlecht darauf schlafen lässt. Die Armut ist aber auch versteckt, weil es in der Schweiz zahlreiche Institutionen gibt, die Menschen helfen, die in anderen Ländern schon lange auf der Strasse gelandet wären.

Die wenigen Obdachlosen, die man sieht, sind fast immer Männer. Weshalb?
Weil Frauen in der Regel ein stärkeres soziales Netz haben. Bei Männern bricht das rascher weg, wenn sie in die Armut geraten. Bei Lebensmittelausgaben bietet sich jedoch das umgekehrte Bild: Dort sind über neunzig Prozent der Leute Frauen.

Was für Menschen buchen die Rundgänge?
Das Publikum ist breit gefächert: Studierende der Sozialen Arbeit, sozial engagierte Vereine, Mitarbeitende von Pflegeeinrichtungen, Abteilungen der Polizei, auch Fasnachtscliquen.

Wie reagieren die Besucher, wenn sie zum ersten Mal in der Gassenküche stehen?
Viele sind beeindruckt. Oft heisst es: «Hier laufe ich jeden Tag durch, aber ich hatte keine Ahnung, dass es diese Einrichtung gibt.» Viele Leute entdecken Basel von einer neuen Seite. Sie sind erstaunt, wie nahe man an der Armut leben kann, ohne sie wahrzunehmen.

Was ist Armut für Sie?
Armut ist der Zustand, wenn man nicht mehr uneingeschränkt an der Gesellschaft teilnehmen kann. Ich meine damit nicht, dass man nicht in der gehobenen Etage mitmischen kann, sondern kleine Dinge. Ich habe zum Beispiel eine Spiegelreflexkamera, ein Relikt aus besseren Zeiten, aber wenn sie einmal kaputt geht, dann ist das Hobby tot. Und mit den Hobbys stirbt auch immer ein Teil der Persönlichkeit.

Ihre sanfte Definition überrascht. Man könnte ja auch sagen: Armut ist, wenn man kein Dach über dem Kopf hat und sich sorgen muss, nicht genügend Essen auf dem Tisch zu haben.
Das könnte man auch, aber ich hatte das Glück, nie auf der Strasse leben zu müssen – im Gegensatz zu den beiden anderen Stadtführern hier in Basel. Armut ist das Bewusstsein, dass die Gesellschaft an einem vorbeilebt.

Sind Sie arm?
Ja.

Stört es Sie, wenn ich das so direkt frage?
Nicht mehr.

Können Sie heute leichter darüber sprechen?
Ja, seit den Stadtrundgängen. Das war ein Prozess des Bewusstwerdens. Ich musste lernen, wildfremden Menschen Dinge über meine Situation zu erzählen, die sie eigentlich nichts angehen. Ich musste es aufgeben, so zu tun, als wäre alles in Ordnung.

Diverse Medien haben im Zusammenhang mit den Rundgängen über Sie berichtet. Wurden Sie auch privat auf Ihre Lage angesprochen?
Nicht gross, aber einige Kollegen sind auf mich zugekommen und haben gewitzelt, ich sei jetzt eine öffentliche Person.

Markus Christen (60) ist einer von drei Führern des «sozialen Stadtrundgangs» in Basel, 
der seit April 2013 durchgeführt wird.