Durch den Monat mit Markus Christen (Teil 3): Darf man über Armut lachen?

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Der «Surprise»-Verkäufer Markus Christen erklärt, warum er trotz Armut nicht mit einem «Lätsch» durchs Leben geht.

Markus Christen beim «Surprise»-Verkauf im Bahnhof Basel SBB: «Oft meistern Arme ihre Situation nur, weil sie Galgenhumor entwickelt haben.»

WOZ: Herr Christen, seit Sie Ihre Arbeit als Chauffeur verloren haben, engagieren Sie sich politisch: Sie sind Stadtführer der «sozialen Stadtrundgänge» in Basel, sind in der SP, halten Reden am 1. Mai, schreiben einen Blog. Warum flüchteten Sie sich in die Politik?
Markus Christen: Nach meiner Entlassung hatte ich plötzlich Zeit, mich zu engagieren. Ich war schon immer ein Mensch, der herausfinden wollte, wie man etwas bewegen kann. Zudem macht es Spass, Texte zu schreiben. Es regt zum Denken an.

Wie schreibt und spricht man über Armut?
Indem man sich bewusst wird, dass Armut keine Krankheit und selten selbst verschuldet, sondern ein Teil des Lebens ist. Armut ist wie Reichtum Gegenstand der Gemeinschaft. Deshalb muss sie enttabuisiert werden. Millionäre werden auch nicht als Randständige bezeichnet, obwohl sie nicht in der Mitte der Gesellschaft leben.

Glauben Sie an den Klassenkampf?
Nicht so, wie er von den Altlinken inszeniert wurde. Die Abschaffung des Kapitalismus ist ein schönes Schlagwort, aber in der Realität nicht umsetzbar. So müssen beispielsweise auch die Sozialdemokraten oft bürgerliche Politik machen, damit die Industrie nicht von Basel weggeht.

Braucht es eher eine grundsätzliche Umverteilung des Reichtums oder einen stärkeren Staat, der sich um die Armen kümmert?
Es bräuchte einen Staat, der von oben nach unten verteilt. Es darf nicht sein, dass die Reichen die Menschen mit wenig Einkommen aushungern.

Sind Arme die besseren Linken?
Nein. Ich kenne viele Arme, die rechts sind. Vor allem diejenigen, denen gekündigt wurde, hecheln der SVP hinterher. Sie glauben, die Ausländer hätten ihnen den Job oder die günstige Wohnung weggenommen. Die Linken verlieren bei den Armen, weil die Rechten mit Plakaten daherkommen, die, zäck-bumm, Antworten liefern.

Gibt es Solidarität unter Obdachlosen?
Nein, eher das Gegenteil ist der Fall. Wer schon lange in der Situation ist, entwickelt einen ziemlich ausgeprägten Egoismus.

Sie sind seit fünf Jahren armutsbetroffen. Wie hat sich Ihr Alltag verändert?
Ich muss auf viele kleine Dinge verzichten. Heute gehe ich seltener in die Beiz, drehe meine Zigaretten selbst, weil es günstiger ist. Aber wie es ist, arm zu sein? Es ist belastend, dass ich am Ende jedes Monats entscheiden muss, welche Rechnungen ich zahle und welche nicht.

Hat sich Ihr soziales Umfeld verändert?
Vom engen Kollegenkreis ist niemand weg, aber ich musste auch darum kämpfen und meine Situation offensiv thematisieren. Das war nicht sehr angenehm.

In der Schweiz redet man nicht über Geld. Darum: Mit wie viel Geld müssen Sie auskommen?
Die Miete abgezogen, stehen meiner Frau und mir 2500 Franken pro Monat zur Verfügung.

Was vermissen Sie am meisten?
Kino, Theater, Reisen.

Darf man über Armut lachen?
Man muss, solange es nicht abwertend ist! So kann die Lebensmittelausgabe beispielsweise lustig sein. Wenn das Ostergeschäft nicht gut läuft, wie in diesem Jahr, dann haben wir noch bis im Spätsommer Schokoladenhasen. Armut ist kein Grund, mit einem «Lätsch» durch das Leben zu gehen. Oft meistern Arme ihre Situation nur, weil sie Galgenhumor entwickelt haben.

Ich stelle es mir deprimierend vor, «Surprise»-Magazine zu verkaufen. Hundert Leute sagen Nein, hundert Leute haben keine Zeit, der Zweihunderterste sagt Ja …
So schlimm ist es nicht. Der Bahnhof ist beispielsweise gut für das Business, aber dort entstehen selten Gespräche. Im Stadtzentrum dagegen kann ich mit den Stammkunden meine Schwätzli halten. Es braucht nur dann Überwindung, wenn zehn Meter neben mir ein Strassenmusiker binnen kurzer Zeit das Doppelte dessen verdient, was ich in vier Stunden bekomme.

Wie sind Sie zum Verein Surprise gekommen?
Durch Paola Gallo, die Geschäftsführerin. Sie ist auch in der SP und hat mich angefragt, ob ich Lust hätte, beim Projekt «Soziale Stadtrundgänge» mitzumachen. Zuerst sagte ich: «Vergiss es.» Aber dann habe ich mich umentschieden und im Mai 2013 meinen ersten Rundgang geführt. Es war schwierig, Leute zu finden, die gleichzeitig Wissen vermitteln und die Besucher unterhalten können. Es bringt nichts, nur seine Geschichte zu erzählen und auf Mitleid zu hoffen.

Sie haben in Ihrem Leben zahlreiche Schicksalsschläge erlitten. Denken Sie sich manchmal: Wäre doch alles anders gelaufen?
Nein. Aber manchmal denke ich, es wäre einfacher gewesen, wenn ich einfach manchmal die Arschbacken zusammengeklemmt hätte.

Hatten Sie nie einen Traumberuf?
Damals nicht, aber heute wüsste ich es. Ich würde Kameramann werden.

Markus Christen ist in der Basler SP in der Arbeitsgruppe Büezer, die versucht, den Cüplisozialismus in die Schranken zu weisen.

* Wunsch von 
Daniel Liechti: «Porträtiert einen sozial 
benachteiligten 
Menschen.»