Durch den Monat mit Markus Christen (Teil 2): Kann man auch zu reich sein?

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Der «Surprise»-Verkäufer Markus Christen ist als Waisenkind aufgewachsen und findet: Reich sein ist mit mehr Stress verbunden als arm sein.

Markus Christen: «Man hört und liest ja immer von ‹Sozialschmarotzern›. Ich frage Sie: Wo wird schmarotzt? Oben, nicht unten. In den Banken wird beschissen.»

WOZ: Herr Christen, auf den «sozialen Stadtrundgängen» in Basel geben Sie wildfremden Menschen preis, dass Sie finanziell prekär leben. Haben Sie kein Problem damit?
Markus Christen: Nein, ich bin es mittlerweile gewohnt, darüber zu sprechen.

Sie hatten keinen leichten Start ins Leben. Ihre Familie hat Sie als Einjährigen verstossen.
Ich bin als Waisenkind aufgewachsen. Ich weiss nicht genau, weshalb ich als Baby weggegeben wurde. Es gibt aber Gerüchte, dass mein Vater nicht mein Vater war, denn keines der anderen sechs Kinder musste gehen. Nach kurzer Zeit in einer Pflegefamilie hat man mich ins Bürgerliche Waisenhaus Basel gebracht. Dort bin ich von Klosterfrauen erzogen worden. Meine Eltern habe ich nie kennengelernt, meine Geschwister einmal gesehen.

Warum nur einmal?
Als Fünfzehnjähriger nahm ich an einem Radioquiz teil. Man konnte einen Ausflug nach Zürich gewinnen. Leider antwortete ich falsch, aber darauf meldete sich eine meiner Schwestern, die zufällig die Sendung gehört hatte. Dann wurde ich nach Baar in ein Restaurant eingeladen. Es war eine distanzierte Begegnung.

Was kam nach dem Waisenhaus?
Ich machte eine Lehre als Typograf und absolvierte den Militärdienst. Danach begann mein unsteter Lebensstil.

Was meinen Sie damit?
Ich begann, von der Hand in den Mund zu leben, denn damals wurden einem die Gelegenheitsjobs nachgeschmissen. Erst ab 1980 habe ich wieder in meinem Beruf in der Schriftsetzerei gearbeitet.

Aber Sie mussten feststellen, dass sich die Branche verändert hatte.
Ja, als ich Typograf lernte, war es ein Kunsthandwerk. In den Achtzigern war es nur noch Technik. Da wollte ich nicht mitmachen. So habe ich vermehrt als Chauffeur gearbeitet.

Und 2009 geschah der Beinaheunfall?
Ja. Ich hatte eine Flugzeugbesatzung von sechzehn Personen im Bus, die ich von Basel nach Zürich bringen sollte. Im Gubristtunnel bin ich eingenickt. Der Mitfahrer neben mir konnte rechtzeitig ins Steuer greifen. Sonst hätte es verheerend enden können. Man stelle sich nur einmal vor: Rechts die Tunnelwand, links Sattelschlepper.

Warum sind Sie eingeschlafen?
Ich leide an Schlafapnoe. Das ist eine Krankheit, bei der man keine Tiefschlafphase hat, und bei monotonen Tätigkeiten wie dem Fahren auf der Autobahn kann es vorkommen, dass man einnickt. Nach dem Unfall kündigte ich, um keine weiteren Menschen zu gefährden und mich selbst zu schützen. Zuerst bezog ich Arbeitslosengeld, 2011 kam die Aussteuerung.

Wovon leben Sie heute?
Vom Verkauf von «Surprise»-Magazinen und von den Führungen. Bis Ende des letzten Jahres hat mich die Sozialhilfe unterstützt. Rechnet man den Lohn meiner Frau und meine Einkünfte zusammen, leben wir jetzt knapp über dem Existenzminimum und sind daher nicht mehr anspruchsberechtigt.

Sie haben mir letzte Woche gesagt, Sie seien arm. Kann man auch zu reich sein?
Ja.

Wann?
Das ist ein wenig plakativ, aber wenn man nicht mehr weiss, wohin mit dem Geld. Aber ich möchte Ihre Frage umdrehen. Man hört und liest ja immer von «Sozialschmarotzern». Ich frage Sie: Wo wird schmarotzt? Oben, nicht unten. In den Banken wird beschissen.

Bei der Sozialhilfe nicht?
Es gibt überall Menschen, die das System ausnutzen. Aber wenn es unten geschieht, gibt es ein riesiges Geschrei. Wenn es oben geschieht, spricht man kurz darüber, und es passiert nichts.

Apropos «oben und unten»: In der Schweiz gibt es mehr Millionäre als Sozialhilfebezüger. Mögen Sie die Schweiz?
Trotz allem: Ja. Hier wird sorgsamer mit den Armen umgegangen als in andern Ländern.

Was würden Sie mit einer Million machen?
Das ist eine hypothetische Frage, darum antworte ich mit einem saloppen Spruch: Ich wäre gestresster als jetzt. Wenn man viel Geld hat, muss man immer schauen, dass das so bleibt. Reich sein ist mit mehr Stress verbunden als arm sein.

Das Bundesamt für Statistik hat errechnet, dass eine alleinstehende Person 2200 Franken pro Monat zum Überleben braucht. Ist das realistisch?
Nein, das ist zu tief angesetzt. Wenn man alles einrechnet, Miete, Krankenkasse, Essen, reichen 2200 Franken bei weitem nicht.

Was müsste gegen Armut getan werden?
Ein wirksamer Ansatz ist das bedingungslose Grundeinkommen, da die Administration so entlastet würde. Die Sozialhilfe wäre dann nur noch für die Extremfälle zuständig und könnte die Armutsbetroffenen betreuen und sie nicht bloss verwalten, wie sie es heute tut.

Markus Christen (60) findet, das Bundesamt 
für Statistik rechnet bezüglich der Lebenshaltungskosten ziemlich weltfremd.