Zürich und die 2000-Watt-Gesellschaft: «Die Hüslischweiz ist nun mal nicht energieeffizient»

Nr. 50 –

Eine Schweiz, die wenig Energie braucht, wäre möglich, wenn man wirklich wollte. Die Stadt Zürich versucht es. Ein Gespräch über die 2000-Watt-Gesellschaft, die Hüslischweiz und die Energiestrategie des Bundes.

Technischer Fortschritt hilft etwas: Herkömmliche Keramikherde brauchen weniger Strom als Plattenherde, aber mehr als Induktionsherde. Foto: Hechtenberg, Caro

Vergangene Woche debattierte der Nationalrat die Vorlage zur Energiestrategie 2050. Energieministerin Doris Leuthard gibt darin vor, dass bis in zwanzig Jahren der Gesamtenergieverbrauch in der Schweiz um 43 Prozent sinken soll. Doch fehlen bislang die gesetzlichen Mittel, um das Ziel zu erreichen. Diverse Schweizer Städte bemühen sich, den Energiekonsum zu senken. Die Stadt Zürich will zum Beispiel bis in dreissig Jahren eine 2000-Watt-Gesellschaft sein. Doch was bedeutet das konkret? Ein Gespräch mit Toni W. Püntener, dem stellvertretenden Leiter der Abteilung Energie und Nachhaltigkeit der Stadt Zürich, und Bettina Volland, Kommunikationsverantwortliche Umwelt- und Gesundheitsschutz und Mitglied des Fachpools 2000-Watt-Gesellschaft.

WOZ: Frau Volland, Herr Püntener, warum braucht es eine 2000-Watt-Gesellschaft?
Bettina Volland: Forschende der ETH haben sich vor zwanzig Jahren gefragt, wie viel Energie der Einzelne weltweit verbrauchen darf, um eine gerechte Verteilung von Energie und Ressourcen zu gewährleisten und ohne grosse Einbussen in der Lebensqualität zu riskieren. Sie kamen dabei auf diese 2000 Watt. Die Leute verstehen oft nicht, was dies technisch bedeutet. Es geht dabei um den Dauerverbrauch: Also, jede Person verbraucht das ganze Jahr hindurch umgerechnet 24 Stunden am Tag stets 2000 Watt. Zum Vergleich: Ein effizienter Staubsauger verbraucht 1000 Watt, ein Haarfön bis zu 2000 Watt. Heute sind es pro Person rund 6000 Watt, also rund dreimal mehr.

Toni Püntener: Man merkt, es waren Physiker, die das Modell entwickelt haben, da war offensichtlich niemand von der Kommunikationsabteilung dabei. Man könnte auch von der 17 520 -Kilowattstunden-Gesellschaft sprechen, das wäre dann der zulässige Verbrauch pro Person und Jahr. Aber die 2000-Watt-Gesellschaft klingt natürlich eingängiger. Es geht ja auch nicht nur um die physikalische Seite – es geht ebenso um die Metapher, die Vision, die dahinter steht.

Volland: Die Reduktion der Treibhausgase ist übrigens auch Teil des Prinzips der 2000-Watt-Gesellschaft: Unser Ziel ist es, sie bis 2050 auf eine Tonne pro Person und Jahr zu reduzieren.

Sind das nicht irrational lange Zeiträume?
Volland: Die Gefahr besteht tatsächlich, dass alles wolkig visionär bleibt.

Püntener: Es ist eine sehr lange Epoche. 2005 haben wir damit begonnen, wir sprechen also von 45 Jahren – also elf Regierungsperioden. Das ist ein ganzes Berufsleben. Gesellschaftlich stellt uns das vor eine grosse Herausforderung: Kann man überhaupt so lang an einem Thema dranbleiben?

In den siebziger Jahren gab es autofreie Sonntage, um Benzin zu sparen. Viel gebracht hat das nicht …
Püntener: Mit dem Konflikt in der Ukraine fürchtet man wieder einmal um die Gasversorgung. Da hab ich mich schon gefragt: Sind wir etwa nicht weiter als 1973? Es ist hart, aber ich vermute, wir bauen erst um, wenn es keine fossilen Brennstoffe mehr gibt. Auch die Stadt Zürich ist selber an einem Erdgasverteiler beteiligt. Das hat der Stadtkasse letztes Jahr rund siebzehn Millionen Franken an Dividenden gebracht. Das entspricht etwa einem Steuerfussprozent. Darauf will die Stadt nicht einfach verzichten.

Viele Leute fliegen im Winter in den Süden. Ist es nicht einfach nur miesepetrig, das zu kritisieren?
Püntener: Letztes Jahr hatten wir einen Workshop zum Thema Suffizienz. Da kam ein interessanter Gedanke auf: Es setzt sich nur durch, was «3 N» ist: normal, nützlich, notwendig. Etwa nach Thailand fliegen ist normal, nützlich, weil es billig ist, und notwendig, weil man sich an der Sonne erholen muss. Es zeigt aber auch, dass gesellschaftliches Verhalten veränderbar und beeinflussbar ist. Wenn es nicht mehr normal ist, nach Thailand zu fliegen, wird es nicht mehr gemacht.

Volland: Die Frage ist: Was ist künftig normal?

Püntener: Genau. Bei den Grossverteilern sind zum Beispiel die Bioprodukte noch nicht «das Normale», sondern immer noch das spezielle Andere. Für die Stadt stellt sich da auch die Frage: Wie intensiv kann, will und darf man auf die Menschen einwirken? Vor einigen Jahren gab es pro Jahr in den städtischen Cafeterias einen sogenannten Klimazmittag – einen einzigen! Und das löste bereits eine Anfrage im Zürcher Gemeinderat aus.

Volland: Inzwischen haben wir ein Menü Plus eingeführt. Es verursacht nicht einmal halb so viel Treibhausgase wie die anderen Menüs. Und das wöchentliche Vegimenü in den Alterszentren ist heute Standard. Beides kommt gut an.

Püntener: Ja, solange man es nicht zu explizit macht.

Haben es Städte nicht einfacher, energieeffizient zu sein?
Volland: Sicher, die Wohnfläche pro Person ist kleiner, weil sie teuer ist. Und alles ist näher, dichter, enger.

Püntener: Obwohl wir in Zürich fast gleich viele Arbeitsplätze wie Einwohner und Einwohnerinnen haben, ist unser Energieverbrauch tiefer als der der meisten Schweizer Gemeinden.

Dann müsste man die Schweiz anders bauen: viel Stadt, keine Agglo?
Püntener: Das würde ich persönlich nicht bestreiten. Die Hüslischweiz ist nicht energieeffizient.

Volland: Mit einer anderen Raum- und Siedlungsplanung könnte man viel bewirken.

Das Konzept der 2000-Watt-Gesellschaft wird aber auch kritisiert, weil es die graue Energie ignoriere, also die Energie, die in den Konsumartikeln steckt.
Püntener: Leider haben wir zwei verschiedene Bilanzierungsansätze. Für die Städte haben wir einen territorialen Ansatz, der berechnet, wie viel Endenergie über die Gemeindegrenze kommt – zum Beispiel in Form von Gas, Benzin, Erdöl, Strom, plus etwas für den Flugverkehr. Ebenso die Treibhausgase. Der individuelle Konsum ist tatsächlich nicht eingerechnet.

Wenn auf Stadtzürcher Boden ein Stahlwerk stehen würde, sähe die Bilanz anders aus?
Püntener: Genau. Das ist zum Beispiel bei der Stadt Baden so. Einige Kilometer der stark befahrenen Autobahn A 1 führen über ihr Stadtgebiet – das merkt man in der Bilanz von Baden. In Zürich gibt es vor allem Dienstleistungsbetriebe, die nicht so viel Energie brauchen.

Volland: Dass der individuelle Konsum nicht eingerechnet ist, stiftet oft Verwirrung. Wenn man sagt, wir würden heute in einer 6000-Watt-Gesellschaft leben, und dann realisieren die Leute, dass die Kleider, die Lebensmittel oder alle andern Dinge, die wir kaufen, da gar nicht drin sind, hat man Erklärungsbedarf.

Wie viel wäre es, wenn man die graue Energie mitberechnen würde?
Püntener: Das lässt sich für jede Person und jeden Lebensstil mit dem Internettool «Ecospeed private» berechnen. Es kann auch ermittelt werden, was die Schweiz im Durchschnitt braucht.

Wie viel macht es denn nun für die ZürcherInnen?
Püntener: Schwierig zu sagen. In der Stadt Zürich brauchen die Leute 15 bis 20 Prozent weniger Wohnfläche als die Durchschnittsschweizer. Der Durchschnittszürcher ist auch deutlich weniger mit dem Auto unterwegs, vielleicht fliegt er mehr oder konsumiert mehr. Wir haben an Expertenhearings versucht, das auszurechnen. Aber wir haben es nicht geschafft.

Wie sehen die Zahlen für die Schweiz aus?
Püntener: Die Methodik für die Erfassung dieser Daten wurde überarbeitet, ist aber noch nicht publiziert. Das Dokument sollte Ende des Jahres verfügbar sein, die Daten werden sich kaum mehr verändern. Wenn wir von der Endenergie ausgehen, waren es 2005 pro Person gesamtschweizerisch 6300 Watt und 8,6 Tonnen Treibhausgas. Inklusive Konsum kommen wir auf 8300 Watt und 12,8 Tonnen Treibhausgas. Für 2012 haben wir 5900 Watt Primärenergie und 7,7 Tonnen Treibhausgas, die Zahlen für den Konsum fehlen aber noch.

Die Wirtschaft ist darauf angewiesen, dass man stets Neues kauft. Eine nachhaltige Welt liegt also gar nicht in ihrem Interesse …
Püntener: Da haben Sie recht. Wahrscheinlich ist die Frage des Sparens vor allem ein Problem des Wachstums. Wenn man zum Beispiel stadtintern beginnt, über solche Fragen nachzudenken, heisst es sofort: «Ihr stellt das Wirtschaftswachstum infrage …»

Volland: … und dann wird es schwierig. Das sind ja auch Steuereinnahmen und Arbeitsplätze.

Püntener: Beim kleinsten Abschwung werden alle schon nervös. Diese Fokussierung auf das Wachstum ist vermutlich der grösste Hemmschuh.

Bis in drei Jahren soll der Strommarkt vollständig liberalisiert werden. Ist das gut oder schlecht?
Püntener: Diesbezüglich wissen wir überhaupt nicht, was passiert. Wenn Bundesrätin Doris Leuthard längerfristig aus der Atomenergie aussteigen will, muss sie den Leuten irgendwann sagen, dass sie diesen Strom nicht mehr kaufen sollen. Ich weiss nicht, wie sie das lösen will. Bis jetzt ist sie die Antwort schuldig geblieben. Wenn sie mit der EU über einen Stromvertrag verhandelt, muss sie auch sagen, wie das gehen soll. Die EU will ja keine Diskriminierung akzeptieren. Wenn die Übertragungskapazitäten knapp sind, darf man Solar- oder Windstrom nicht bevorzugt durchleiten. Die Frage der Qualität des Stroms ist entscheidend, also ob er aus erneuerbaren Energien oder fossilem Brennstoff stammt. Wenn es die Liberalisierung nicht schafft, auch das zu thematisieren, dann stürzen wir damit ab.

Onlineberechnung des individuellen Energiekonsums: www.stadt-zuerich.ch/2000watt.