Tantramassage: «Für eine Krone lassen wir uns nicht ins Knie bohren»
Wie sieht der Alltag einer Sexarbeiterin aus? Die WOZ hat einen Tag in einem Tantramassagestudio in Bern verbracht.

«Unsere Arbeit besteht auch aus sehr viel Waschen», erklärt Mia, während sie zusammen mit Valentina eine grosse Beige Frotteetücher zusammenfaltet. Es ist gemütlich in der Stube dieser kleinräumigen Vierzimmerwohnung im Berner Lorrainequartier. Der Tee dampft aus den Tassen, auf dem Sofa schlafen die zwei Yorkshireterrier Pepita und Poncho, ein paar Kerzen und Tannenzweige erinnern daran, dass bald Weihnachten ist, eine kleine Buddhastatue bewacht eine weitere Kerze, das Schminktischchen ist vollgestellt mit Kosmetikartikeln, über das Zimmer verteilt liegen gut zehn Handys.
Es ist etwa halb elf Uhr morgens, und der Arbeitstag im Massagestudio Magische Tantra hat schon länger angefangen. Tanya und Valentina sind seit 8 Uhr auf den Beinen, haben die Böden gewischt, die Badewanne geschrubbt, abgestaubt, eingekauft, mit der Mutter telefoniert, Tee gekocht, Kerzen angezündet und die Duftlämpchen aufgefüllt sowie Inserate auf diverse Sexportale hochgeladen. Mia, die Salonbetreiberin, ist etwas später dazugekommen. Sie vermietet die Zimmer an die «Mädchen», wie sie ihre Arbeitskolleginnen nennt, und wohnt in einer eigenen Wohnung nicht allzu weit weg vom Massagestudio.
Während Mia und Valentina die Wäsche zusammenlegen, kümmert Tanya sich um den ersten Gast. Sie trägt ein hautenges, superkurzes, knallpinkes Schlauchkleid. Bevor sie den Kunden begrüsst, benutzt sie Deo und Mundspray, trägt Puder auf Wangen und Nase auf und verwuschelt sich die Haare ein bisschen. Sie führt den Kunden ins Zimmer und bringt ihm einen Tee. Sie besprechen Art und Dauer der Massage, der Kunde bezahlt und legt sich nackt auf das Frotteetuch auf der Matratze. Tanya schiebt ihm ein kleineres Tuch unter den Nacken, nach der Massage wird sie ihm ein weiteres zum Duschen geben. Daher die viele Wäsche.
Gute Menschenkenntnis
Das Studio Magische Tantra bietet Massagen aller Art an: von Sportmassagen über erotische Tantramassagen mit Nuruöl bis zu «dominanten» Massagen. Alle Behandlungen werden mit einer Intimmassage bis zum «Happy End» beendet. Geschlechts- oder Oralverkehr wird nicht angeboten. Und obwohl die Vorgaben klar sind, gibt es immer wieder mal Kunden, die versuchen, den Preis zu drücken. Um den Behindertenrabatt zu erschleichen (das Massagestudio ist spezialisiert auf Behinderte und Senioren), hat sich auch schon einer den rechten Arm einbandagiert, obwohl er, wie sich später herausstellte, kerngesund war. Und gerade heute früh hat Mia einem weiteren Kunden ein Hausverbot erteilt. Er habe sich jeweils für Sportmassagen angemeldet, ohne «Happy End», verlangte dann aber jeweils doch, im Intimbereich massiert zu werden, allerdings ohne abzuspritzen, und versuchte so, fünfzig Franken einzusparen. Als er anfing, den Frauen zu erzählen, dass die jeweils andere ihm einen geblasen habe, reichte es Mia, und sie stellte ihn vor die Tür. «In der Slowakei gibt es ein Sprichwort, das auf Deutsch in etwa lautet: Für eine Krone lassen wir uns nicht ins Knie bohren», sagt Valentina. «Lieber schicken wir einen unangenehmen Kunden weg und haben dafür eine gute Stimmung im Haus. Bisher ist noch jedes Mal ein neuer, besserer Kunde aufgetaucht.» Die meisten Kunden seien sehr anständig und hielten sich auch an die Regeln.
Die drei Frauen verfügen über eine gute Menschenkenntnis. Seit zehn Jahren arbeitet Mia in Massagestudios, seit acht Jahren ist die 32-Jährige selbstständig. Und sie legt viel Wert darauf, sich dabei klar von anderen Frauen abzugrenzen, die für Geld mit Männern schlafen. Sie geht zum Wohnzimmertisch, auf dem drei Laptops stehen, und zeigt eine der Websites mit Sexkleinanzeigen, auf der auch Tanya und Valentina inserieren. Vier- bis fünfmal pro Tag laden sie ihre Inserate auf zehn verschiedenen Portalen hoch, da die neusten Inserate jeweils zuoberst auf der Website platziert werden. «Schau, diese hier ist neu in Bern», sagt Mia, «eine sehr hübsche Polin. Aber die macht alles: Geschlechtsverkehr, Oralverkehr, Facesitting, Küssen bei Sympathie … Wie kann sie nur?» Mia schüttelt den Kopf: «Ich verstehe nicht, wieso manche Frauen lieber die Beine breit machen, als eine Stunde lang jemanden zu massieren.» Es stört sie, wenn andere alle SexarbeiterInnen über einen Kamm scheren.
«Wir bestimmen, was wir tun»
Mittlerweile kommt Tanya zurück von ihrem ersten Kunden, sie hat ein Batikstrandtuch um ihren Körper geschlungen. Die Frauen ziehen während der Massagen ebenfalls ihre Kleider aus, nur den Slip behalten sie an. Wenn er möchte, darf der Kunde sie anfassen, jedoch nicht im Intimbereich, auch geküsst wird nicht. «Wir sagen zwar: Der Kunde ist König. Doch in Wahrheit bestimmen wir über unsere Arbeit, was wir tun, was nicht», stellt Mia klar. Es sei ein angenehmer Kunde gewesen, erzählt Tanya. Alles, was er wollte, war, dass sie sich auf den Bauch legt. Dann roch er an ihrem Nacken und ihrem Rücken, eine halbe Stunde lang. Da er dabei stark schwitzte, geht nun auch Tanya duschen. Das sei nicht immer nötig, je nach Massage halt. Meist reiche simples Händewaschen.
Kurz sitzen alle drei Frauen zusammen am Tisch, schreiben Nachrichten auf Facebook, schalten weitere Anzeigen auf. Wenn wenig los ist, backt Valentina Kuchen. Diese seien mittlerweile so beliebt, dass sich sowohl Kunden als auch die Polizei vor ihren Kontrollen danach erkundigten. Doch heute bleibt keine Zeit zum Backen, es bleibt auch kaum Zeit zum Mittagessen. Immer wieder klingelt es an der Tür. Neben der Laufkundschaft kommen heute auch mehrere Stammkunden vorbei, um sich von Tanya und Valentina zu verabschieden. Die beiden fahren morgen für einige Wochen zurück in die Slowakei. Valentina ist Hausfrau, Tanya studiert Sozialpsychologie. Während ihrer Abwesenheit werden zwei andere Frauen ihre Zimmer übernehmen. Mia hat mehrere Stelleninserate im Internet aufgeschaltet; nur selten melden sich Schweizerinnen auf ihre Anzeigen.
Wenn eine neue Kollegin zu Magische Tantra kommt, vereinbart Mia jeweils einen Termin bei der Beratungsstelle Xenia, obwohl sie das Bewilligungsverfahren schon lange en détail kennt. Allein finden sich Frauen, die eben erst in der Schweiz angekommen sind, kaum zurecht im Behörden- und Bewilligungsdschungel. Auf der Beratungsstelle wird ihnen geholfen, einen Businessplan aufzustellen. Diesen bringen sie dann zusammen mit dem Untermietvertrag und zig Formularen bei der Fremdenpolizei vorbei.
Wenn eine Frau länger als nur ein paar Wochen bleiben oder regelmässig wiederkommen möchte, stellt Mia für sie ein Gesuch um Aufenthaltsbewilligung und begleitet sie auf die Fremdenpolizei zum Gespräch. Es werden oft Fragen gestellt wie: «Wer kümmert sich um Ihr Kind, während Sie in der Schweiz sind? Warum gehen Sie nicht Ihrem gelernten Beruf nach? Wo schicken Sie Ihr Geld hin?» In den Gesprächen geht es auch darum abzuklären, ob die Frauen Opfer von Menschenhandel oder Zuhälterei sind.
Das Mühsamste an ihrer Arbeit seien nicht etwa die Kunden, sagt Mia, sondern der ganze Behördenkram. So müssen Mia und ihr Massagesalon wohl bald umziehen, da ihr Studio in einer gemischten Wohnzone liegt. «Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Behörden um jeden Preis verhindern wollen, dass wir Geld verdienen», sagt Mia. «Dabei sind es doch genau jene Typen, die dort hinter ihren Schreibtischen sitzen, die sich nachher bei uns massieren lassen. Wir gehen ruhig unserem Geschäft nach, sind leise, sauber, stören niemanden.» Das Verhältnis mit den NachbarInnen sei gut, mit dem Vermieter auch. Eine Familie im Haus hat ein kleines Kind, das jeweils nach draussen geschickt wurde, wenn es weinte. Das heulende Kind vor der Haustür hat die Männer während der Massagen jedoch gestört. Mia beschwerte sich beim Vermieter, seither ist es besser geworden.
«Mir gefällt die Selbstständigkeit und Freiheit, die ich habe», sagt die Salonbetreiberin. «Ich habe früher in der Gastronomie für sehr wenig Lohn unglaublich viel gearbeitet. Jetzt kann ich auch immer etwas auf die Seite legen.» Es schmerzt sie manchmal, dass sie für ihr gut laufendes Geschäft nie dieselbe Anerkennung erhalten wird wie andere KleinunternehmerInnen.
Diskretion als oberstes Gebot
Am Nachmittag kommt die Fotografin vorbei. Mia ist aufgeregt. «Ich habe extra für euch diese Strümpfe angezogen heute», sagt sie und deutet auf ihre raffiniert gemusterten Beine. Dann holt sie ein paar Pumps mit schwindelerregend hohen Absätzen aus dem Schrank, auch diese extra für den Fototermin. Die anderen Frauen tragen flache Ballerinas oder Schlappen. Genauso wie JournalistInnen gewisse Vorstellungen von SexarbeiterInnen haben, haben SexarbeiterInnen gewisse Vorstellungen von JournalistInnen und ihren Bedürfnissen.
Auf den Vorschlag, sich in der Stube fotografieren zu lassen, wo sie die meiste Zeit des Tages verbringt, reagiert Mia etwas unwirsch. Es sei zu wenig aufgeräumt, und wir sollen doch lieber in eines der sorgfältig dekorierten Massagezimmer gehen. Die Zimmer sind nur gedämpft beleuchtet. Am Boden liegt eine Matratze mit Leintuch in Batikoptik. Auf dem Nachttischchen stehen Kerzen und auch hier Weihnachtsdekoration neben kleinen Buddhas. In einer kleinen Kiste neben dem Bett finden sich verschiedene Utensilien, von Seidentüchern über Hasenfellhandschuhe bis hin zu einer kleinen rosa Wildlederpeitsche und Handfesseln, ebenfalls aus rosa Leder. Mia kichert, sie gehören zur Ausstattung der «dominanten» Massage. Dann posiert sie auf dem Bett und vor dem Fenster.
Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer hören wir gedämpfte Klatschgeräusche, gefolgt von einem Stöhnen aus einem der anderen Zimmer. Ein Versicherungsvertreter lässt sich gerade den Hintern versohlen. Gegen Ende der Behandlung entspanntes Lachen. Man kennt sich und wünscht sich frohe Weihnachten. Mit einer gewissen Verwunderung sprechen die Frauen über die teils sonderbar anmutenden Wünsche ihrer Kunden. Am unkompliziertesten seien die Fussfetischisten. Die wünschten sich nichts anderes, als an ihren Zehen zu lutschen, manche wollen auch den Nagellack abknabbern. Doch Diskretion ist oberstes Gebot. Die Kunden dürfen sich nie gegenseitig sehen. Da kann es schon mal vorkommen, dass eine die Badezimmertür zuhält, wo sich der eine Kunde gerade duscht, während die andere einen neuen Gast begrüsst.
Die wichtigsten Hausregeln hängen an der Pinnwand im Wohnzimmer, daneben zwei wichtige Sätze auf Deutsch: «Ich denke an dich» und «Ich freue mich auf dich». Mit einem dieser Sätze wird jedes Telefonat beendet. Und die diversen Telefone klingeln sehr oft an diesem Nachmittag. Die Frauen haben alle je ein Handy für die Arbeit und ein privates Smartphone. Die Anrufer heissen Peter, Ruedi, Tobias, Beat. Kurt ruft an, um zu erzählen, dass seine Herzoperation glimpflich verlaufen sei. «Es kommen fast ausschliesslich Schweizer zu uns», sagt Mia. «Das liegt wahrscheinlich an den Preisen.» Bisher besteht die Kundschaft von Magische Tantra nur aus Männern, obwohl auf der Website auch Massagen für Frauen angeboten werden.
Gegen Abend wird es ruhiger. Die meisten Kunden kommen tagsüber, wenn sie im Aussendienst arbeiten, oder in der Mittagspause. Abends, wenn der letzte Kunde gegangen ist, schauen die Frauen zusammen noch ein bisschen fern. Eine slowakische Seifenoper über eine reiche Weingutsfamilie. Oder «Client List», eine US-Serie über Masseurinnen mit Jennifer Love Hewitt. Manchmal gehen sie auch zusammen zu Burger King und nachher noch ein bisschen tanzen. Doch die meiste Zeit verbringen sie in ihrer Wohnung, die gleichzeitig ihr Arbeitsort ist. Magische Tantra hat sieben Tage die Woche geöffnet. Heute Abend werden sie zum Weihnachtsessen gehen und sich voneinander verabschieden.