Griechenland: Hey, it’s democracy, stupid!

Nr. 5 –

Der Wahlsieg von Syriza zeigt, was es nach Jahrzehnten struktureller ökonomischer Gewalt zurückzuerobern gilt, nicht nur in Griechenland: die Demokratie.

Keine Woche ist seit den Wahlen in Griechenland vergangen, und schon wird von vielen gefragt, ob Syriza durch das Bündnis mit den rechtspopulistischen Unabhängigen Griechen den Kredit nicht bereits wieder verspielt hat. Von einer Regierung, die so wenig Prinzipientreue an den Tag lege, so heisst es, sei nichts zu erwarten. Doch bestand die Bedeutung des Syriza-Wahlsiegs wirklich darin, dass danach besser regiert werden sollte?

In den letzten, von Pegida und Islamischem Staat, fundamentalistischen Anschlägen und rassistischem Wahn beherrschten Monaten haben wir das Drama des 21. Jahrhunderts in seiner ganzen Hässlichkeit zu Gesicht bekommen. Serge Halimi, Herausgeber von «Le Monde diplomatique», hat die Lage in seinem Editorial für die aktuelle Ausgabe der Monatszeitung treffend beschrieben: Während die Welt zerbricht, Ungleichheit und Marginalisierung immer erdrückender werden, diskutieren wir, ob man Mohammed zeichnen darf. Umso grösser die Probleme, desto belangloser die Auseinandersetzungen: Weihnachtsbaum und Koran als Antwort auf Abstiegs- und Versagensängste.

Neue politische Räume öffnen

Halimi hat recht, Diskurs und Realität haben kaum noch miteinander zu tun. Der Neoliberalismus hat die demokratischen Strukturen zur leeren Hülle werden lassen. Neue transnationale Regierungsformen sind entstanden, die von niemandem mehr legitimiert werden müssen. Die Manipulation durch Medienkonzerne und die Kulturindustrie wird immer absurder, und der kapitalistische Ökonomisierungszwang reisst jede gesellschaftliche und ökologische Schranke nieder.

Doch wir streiten darüber, ob Fischesser Angst vor Fleischessern haben, ob Linkshänder Rechtshänderinnen fürchten sollten. Gesellschaftliche Widersprüche werden nur noch als Karikatur verhandelt: «abgehobene Politik», «Brüssel», «Lügenpresse», «Gier» – das sind die Begriffe, mit denen das aufgeklärte Europa seine Krise zu erklären versucht.

Die Bedeutung des Syriza-Wahlsiegs ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Viele Intellektuelle, die sich für Regierungspersonal ansonsten wenig interessieren, haben in den letzten Wochen über die Bedeutung der anstehenden Wahlen geschrieben. Slavoj Zizek behauptete, nur die «von Syriza repräsentierte Häresie» könne retten, was am europäischen Erbe verteidigenswert sei: Demokratie, Vertrauen in die Bevölkerung, egalitäre Solidarität. Und die radikalen italienischen Philosophen Toni Negri und Sandro Mezzadra sprachen von der «fundamentalen Chance, neue politische Räume in Europa zu eröffnen».

Ihre Hoffnung stützt sich nicht darauf, dass Alexis Tsipras etwas «besser machen», diese oder jene Massnahme ergreifen könnte. Sie interpretieren den Augenblick, wie es der griechische Psychologe Akis Gavriilidis in seinem lesenswerten Aufsatz «Grexodus: elections, debts, and the ghosts of post-self-colonialism» formuliert hat, weniger «anhand der Widersprüche und Konflikte» als anhand seiner «Fluchtlinien». Das Entscheidende ist der Akt der kollektiven Verweigerung: Der griechische Wahltag war ein «voting as exodus», eine Flucht, ein Ausbruch aus den Verhältnissen. Er eröffnet ein neues Feld.

Wider die Alternativlosigkeit

In den vergangenen drei Jahrzehnten beruhte die Stabilität des neoliberalen Regimes darauf, dass die strukturellen Gewaltverhältnisse (vulgo: «Sachzwang») als alternativlos erschienen. Es war unwesentlich, ob Konservative oder Sozialdemokraten regierten, weil die grundsätzlichen Entscheidungen ausserhalb der Politik gefällt wurden. Der Syriza-Wahlsieg stellt diese Logik infrage. Dem «It’s the economy, stupid» hallt ein «Es geht um die Demokratie, Dummerchen» entgegen (vgl. im Anschluss an diesen Text: «‹It’s the economy, stupid›»).

Denn mit der Niederlage der Sachzwangsverwalter eröffnet sich auch die Möglichkeit eines konstituierenden Prozesses. Von der Peripherie Europas ausgehend, stellen Menschen die Grundlagen des neoliberalen Regimes infrage. Vor allem daran wird die Syriza-Regierung zu messen sein: ob sie die Situation offenhält, ob der griechische Wahlausgang weiter ansteckend wirkt.

Im Mai finden in grossen Teilen Spaniens Regionalwahlen statt, im Herbst wird die neue Zentralregierung gewählt. Die erst vor einem Jahr gegründete linke Bürgerbewegung Podemos ist in den meisten Umfragen heute stärkste Partei. Im Fall eines Wahlsiegs will sie einen konstituierenden Prozess in Gang setzen: eine breite gesellschaftliche Debatte über einen neuen, nicht neoliberalen «contrat social», wie es solche vor einem Jahrzehnt in Venezuela, Bolivien und Ecuador gab.

Das ist das Entscheidende des Augenblicks: dass er das demokratische Aufbegehren gegen die Alternativlosigkeit der herrschenden Verhältnisse denkbar macht und damit wieder den Blick freigibt auf die realen gesellschaftlichen Probleme. Es ist dieser sich öffnende Raum, über den wir reden müssen, nicht über Alexis Tsipras und seine Verwaltungsmassnahmen.

«It’s the economy, stupid»

Mit dem Slogan «It’s the economy, stupid!» soll Bill Clinton 1992 die US-Präsidentschaftswahl gewonnen haben. Geprägt hatte den Spruch Clintons Wahlstratege James Carville – nicht für die Öffentlichkeit, sondern als eine von drei Kernbotschaften für die MitarbeiterInnen der Wahlkampagne.

Die Botschaft mutierte indes rasch zum zentralen Wahlkampfslogan. Und machte in der Folge Karriere im Bereich des politischen Sloganeerings: «It’s the corporation, stupid!», «It’s the deficit, stupid!», «It’s the voters, stupid!». Trotz dieser Abwandlungen glauben viele Menschen bis heute, die Wirtschaftslage entscheide den Ausgang von Wahlen.