Durch den Monat mit Simon Jaquemet (Teil 1): Haben Sie sich da einen Bubentraum erfüllt?
Der Filmemacher Simon Jaquemet hat mit «Chrieg» einen starken Spielfilm über gewalttätige Jugendliche gedreht. Er sehnt sich selber manchmal nach dem Chaos.

WOZ: Simon Jaquemet, wann haben Sie letztmals etwas kaputt geschlagen?
Simon Jaquemet: Ich? Das war bei der Vorbereitung zum Film, auf einem Schrottplatz. Wir wollten testen, wie man Autoscheiben kaputt macht, und dafür haben wir ein schrottreifes Auto organisiert. Als wir mit den Tests fertig waren, dachten wir: Jetzt können wir es eigentlich noch ganz kaputt schlagen. Da durfte dann jeder mal ein paar Scheiben vertätschen.
Hat es gutgetan?
Ja, es ist schon sehr entspannend, ab und zu etwas kaputt zu hauen. Ich habe aus der Wut sicher auch schon in meiner Wohnung etwas zerschlagen. Aber nur im kleinen Rahmen.
In Ihrem Film «Chrieg» gibt es ja diese Szene, wo die jugendlichen Hauptfiguren entfesselt ein bürgerliches Interieur zertrümmern. Haben Sie sich da auch einen Bubentraum erfüllt?
Sicher. Das haben wir als Jugendliche ja auch getan, dass wir in irgendwelche verlassenen Häuser eingedrungen sind, um dort Sachen kaputt zu schlagen. Aber grössere Zerstörung haben wir uns nicht getraut – jedenfalls ich nicht. Ich war da zu wenig mutig, um richtig etwas kaputt zu machen.
Schon der Titel Ihres Films ist ja eine kleine Provokation: «Chrieg». In unserem Paradies der Neutralität geben wir uns schliesslich enorm Mühe, dass die Kriege gefälligst draussen bleiben.
Den Titel habe ich sehr intuitiv gewählt, als der Film erst eine Idee auf einer halben Seite war. «Chrieg» ist immer geblieben, weil das einerseits sehr direkt und einfach ist – aber eben auch provokativ, das war mir wichtig. Es ist doch so: Bei uns in der Schweiz ist alles so sauber, so geputzt und so eng, auch in den Köpfen, dass wir manchmal den Krieg oder zumindest das Gewaltsame und die Unordnung herbeisehnen. Gerade weil es bei uns schon sehr lange keinen Krieg mehr gegeben hat, schwelt doch irgendwo diese Lust nach dem totalen Chaos.
Bei uns war das damals auch eine typische Drohung auf dem Pausenplatz: «Wotsch Chrieg?»
Genau. Das gibts ja immer wieder, dass man als Jugendlicher mit irgendjemandem im Krieg steht: mit den Lehrern, den Eltern oder auch mit Kollegen. Wir waren als Kids oft im Krieg. Aber natürlich nie so extrem wie im Film.
In «Chrieg» wird Matteo von seinen Eltern auf eine Alp geschickt, wo er Zucht und Ordnung lernen soll. Haben Sie sich da an real existierenden Erziehungscamps orientiert?
Es gab ja diesen Fall um ein angebliches Foltercamp mit Schweizer Jugendlichen in Spanien, wo am Ende nicht mehr klar war, wie weit das von den Betroffenen selbst und/oder von den Medien herbeifantasiert wurde. Die Idee mit der Alp geht eher auf eine Geschichte zurück, von der mir jemand erzählt hat. Da ging es um ein Ferienlager, das von zwielichtigen Figuren geleitet wurde, die das Geld für das Lager einfach versoffen. Die Jugendlichen wurden dort völlig allein gelassen, was offenbar zu sehr chaotischen Zuständen führte – aber irgendwie auch paradiesisch war.
Auch Ihr Film bleibt sehr ambivalent: Gewalt ist zerstörerisch, aber sie stiftet eben auch Identität. War von Anfang an klar, dass Sie das so in der Schwebe halten wollten?
Ich glaube schon. Das Faszinierende an der Gewalt war mir immer wichtig. Auch diese Kraft, die entstehen kann, wenn man, gerade in einer Gruppe, gewalttätig unterwegs ist. Wenn man das verstehen will, ist der Aspekt der Faszination spannender als das Abstossende. Die Angst vor Gewalt ist ja normal, das kennen wir alle selber.
Aber im Kino ist doch die Faszination für Gewalt eher der Normalfall.
Klar, gerade im amerikanischen Kino. Aber dort wird Gewalt ja gleichzeitig auch verharmlost. Da werden massenhaft Leute erschossen, aber es ist einfach nur cool. Ich habe versucht, die Gewalt realistisch zu zeigen, jedenfalls nicht so distanziert, dass man sie als Unterhaltung konsumieren kann. Die Faszination sollte man trotzdem mitbekommen.
Die sogenannte Jugendgewalt ist in den letzten Jahren zu einem medialen Phantasma geworden. Wo sehen Sie Ihren Film «Chrieg» in diesem Komplex?
Da gehört mein Film irgendwie auch dazu. Aber ich würde jetzt nicht sagen, dass ich total überzeugende, allgemeine Einsichten gefunden hätte. Da gibts keine einfachen Antworten.
Aber könnten Sie sich zum Beispiel vorstellen, dass Ihr Film an Schulen gezeigt wird?
Das wäre gut. Unser Verleih hat das probiert, aber das Interesse scheint recht klein. Ich glaube, den Lehrern ist er zu offen und vielleicht pädagogisch nicht wertvoll genug. Das kam an Rückmeldungen. Ich kann mir vorstellen, dass der Film vielen zu heiss ist, weil sie fürchten, dass er eher zur Gewalt anstiften könnte.
Können Sie die Zurückhaltung nachvollziehen?
Ja. Wenn ein Film seine moralische Botschaft schon mitliefert, ist es natürlich einfacher für den Lehrer. Dann muss er selber nicht so viel dazu sagen. Aber wahrscheinlich ist es für Jugendliche cooler, wenn sie den Film selber entdecken, als wenn sie in der Schule mit dem Lehrer darüber reden müssten.
Simon Jaquemet (36) hat sich für seinen ersten Spielfilm «Chrieg» auch vom Videogame «Grand Theft Auto» inspirieren lassen. Der Film läuft ab Donnerstag, 12. März 2015, im Kino.