Durch den Monat mit Simon Jaquemet (Teil 3): Ist Ihnen noch geheuer, wie Ihr Film jetzt gefeiert wird?
Filmemacher Simon Jaquemet ist als Kind von Hippie-Eltern aufgewachsen. Unter den reichen Jungs am Gymnasium hat es ihm dann die Sprache verschlagen.
WOZ: Simon Jaquemet, beim Schweizer Filmpreis gabs nur eine Auszeichnung für Ihren Kameramann Lorenz Merz, aber die Kritiken für «Chrieg» sind euphorisch wie selten. Ist Ihnen eigentlich noch geheuer, wie einhellig Ihr Erstling gefeiert wird?
Simon Jaquemet: Es macht mich schon ein bisschen misstrauisch, ehrlich gesagt. Und ich bin immer froh, wenn jemand auftaucht, der kritisch ist. Aber es ist natürlich super.
Wann wurde Ihnen klar, dass Sie mit «Chrieg» einen sehr guten Film gemacht haben?
Ich habe immer gedacht, dass der Film okay ist. Aber selber kann ich das natürlich nicht so richtig einschätzen. Wie gut er offenbar geworden ist, wurde mir bewusst, als wir in Saarbrücken den Max-Ophüls-Preis gewonnen haben. Ich selber bin aber immer noch extrem kritisch. Ich sehe vieles, was ich beim nächsten Mal besser machen müsste. Es gibt kleine Ungereimtheiten, ein paar Sachen sind dramaturgisch ziemlich zurechtgebogen. Und inhaltlich könnte der Film noch direkter und konsequenter sein.
Wie stark ist «Chrieg» autobiografisch gefärbt?
Ich habe selber nie so krasse Sachen erlebt. Aber was die Wut angeht, die ich als Jugendlicher hatte: Da ist der Film schon sehr nah bei mir. Ich war fast noch verschlossener als Matteo im Film. Diese angestaute Wut, die nur ganz selten ausbricht: Das hatte ich auch. Ich war zwar nie in einem Camp wie im Film. Aber ich hatte mir damals auch gewünscht, von einer Gang aufgenommen zu werden, die komplett ausserhalb der Normalität und des Gesetzes operiert.
Wie sind Sie aufgewachsen?
Ich war ja als Baby angeblich in Afrika, auch wenn ich mich natürlich nicht daran erinnern kann. Mein Vater war dort Entwicklungshelfer, aber das ist irgendwie gescheitert, jedenfalls sind meine Eltern bald wieder zurückgekehrt. Später lebten wir zusammen mit einer anderen Familie auf einem Hof in der Grün 80, einer Parkanlage am Rande Basels. Wir hatten da unsere Geheimgänge, geheimen Höhlen oder auch Scheunen mit versteckten Räumen im Heu.
Klingt nach einem paradiesischen Umfeld für Kinder. Woher rührte dann Ihre Verschlossenheit?
Das änderte sich alles, als sich meine Eltern scheiden liessen und wir in die Stadt zogen. Am Anfang war ich in einer total alternativen Schule, danach kam ich aufs Freie Gymnasium – also auch eine Privatschule, aber dort kamen viele Schüler aus reichem Haus. Ich hatte damals eine ähnliche Frisur wie Matteo im Film: so lange Fransen, manchmal auch pink gefärbt. Ich sah aus wie ein Punk und kam also in diese Schule mit lauter schicken Jungs in Hemden und Poloshirts.
Als ich später ins staatliche Gymnasium wechselte, verlor ich den Freundeskreis von früher vollends. Ich hab mich dort nie mehr richtig integriert und hab einfach meine Zeit abgesessen. Damals, ich war etwa sechzehn, war alles sehr komisch. Ich hab einfach jahrelang nicht viel geredet. Ich könnte aber nicht so genau sagen, ob das jetzt wegen mir war oder aus anderen Gründen. Ich erlebte diese Ultra-Einsamkeit, in der man als Jugendlicher niemanden hat, mit dem man offen reden kann. Das ist sicher in den Film eingeflossen.
Wollten Sie immer schon Filmemacher werden?
In der Zeit, als ich nicht viel redete, lebte ich eher in meiner Fantasie. Ich zeichnete ständig und dachte mir auch immer Storys aus. Damals wurde mir klar, dass ich etwas in diese Richtung machen wollte: Comiczeichner oder Schriftsteller. Nach einem Fotoroman hab ich mit Super 8 und mit Skaterfilmen angefangen. An der Filmschule wurde ich dann zuerst abgelehnt, über den Vorkurs habe ichs später dann doch geschafft.
Was in «Chrieg» auffällt: Das ist eine Jugend ohne Vorbilder oder Idole. Hatten Sie selber Helden in Ihrer Kindheit?
Ja, für mich waren das damals Skater oder auch die Sprayer. Es hat mich extrem fasziniert, was die für abartig gefährliche Sachen boten. Ich weiss nicht, wie das heute ist, aber Skaten war damals noch eine reale Subkultur, die noch nicht kommerzialisiert war. Ich kann mir vorstellen, dass es heute viel schwieriger ist, echte Vorbilder zu finden, die nicht schon irgendein Kommerzkonstrukt sind – oder überhaupt irgendeine Subkultur oder sonst etwas, was noch nicht kommerziell vereinnahmt ist. Etwas, mit dem man sich noch abgrenzen kann.
«Chrieg» ist ja auch eine Abrechnung mit der Generation der Eltern. Wie viel von den Idealen Ihrer eigenen Eltern haben Sie bewahrt?
Sie meinen dieses Hippie-Weltbild? Im grossen Ganzen teile ich diese Ideen – auch wenn ich vielleicht ein bisschen desillusionierter bin. Vor allem als sie jünger waren, hatten meine Eltern noch extrem klare Ideale, an die sie glaubten. Ich habe sogar gehört, dass sie, als sie noch keine Kinder hatten, einmal nach Afrika gereist seien, um sich dort in einem Krieg den Rebellen anzuschliessen. Die wollten dort mitkämpfen, aber dazu ist es dann nicht gekommen, sie haben es irgendwie nicht geschafft.
Das ist schon eine krasse Form von Idealismus. Diese totale Hingabe an eine Ideologie, glaube ich, gibt es heute nicht mehr. Ausser vielleicht im Islamismus, aber das ist doch eher erschreckend.
Auch wenn man das seinem Erstling «Chrieg» so gar nicht ansieht: Simon Jaquemet (36) ist eigentlich ein optimistischer Mensch.