Pick-up Artists: Die Schule der Verführer
«Pick-up Artists» bringen Männern das Abschleppen von Frauen bei und sorgen damit für Empörung. Unsere Autorin nahm an einem Workshop einer der aktivsten Pick-up-Communitys in Europa teil.
Es war ein ungewöhnlicher Abend, sehr entspannt, mit reichlich Gelächter und Diskussionsstoff. Es gab diesen Moment, als wir zwei Frauen uns grinsend anschauten, umgeben von einem halben Dutzend Männern, die sich bei Wein und Pasta freimütig über ihre «issues» unterhielten, über Beziehungsängste, gesellschaftlichen Druck, Liebe, Verluste, versteckte Gelüste und tausend andere Dinge, die sie gerade bewegten.
Die Stimmung war gelöst, Mann war offen, alles drehte sich um Ehrlichkeit und Authentizität. Im Mittelpunkt standen Zan Perrion aus Kanada und sein Geschäftspartner Hans Comyn aus Belgien, zwei umtriebige Pick-up Artists mit einer Firma namens Ars Amorata.
Tagsüber hatten die Verführungsprofis Workshops gegeben. Gut vierzig Männer zwischen zwanzig und fünfzig Jahren lauschten ihren Ausführungen, Kostenpunkt: 45 Franken. Das anschliessende Nachtessen inklusive fachmännischer Betreuung war zum Aktionspreis von 200 statt 500 Franken zu haben, aber einer ausgewählten Gruppe von Workshopteilnehmern vorbehalten. Und uns, Lizzy* und mir. In diesem Moment mussten wir zugeben: Das war schon eine reizvolle Konstellation, an einem Tisch zu sitzen mit all diesen Typen, die superauthentisch rüberkommen wollten. Mit Sex hatte das wenig zu tun, eher mit einer Art neckischer Feldstudie. Will heissen: Nebst anregenden Gesprächen und ein paar unerwarteten Einsichten hatten wir auch selber ordentlich Spass am Mitspielen. Und ironischerweise hatten wir das sogar irgendwie Julien Blanc zu verdanken. Zum Teil jedenfalls.
Petitionen und Einreiseverbote
Ein mieses Schwein sei er, dieser Julien Blanc. Ein selbst ernannter Profiaufreisser, der zu Gewalt an Frauen aufrufe und damit auch noch Geld verdiene. So oder ähnlich war es überall zu lesen, als im vergangenen November Bild- und Videomaterial aufgetaucht war, das Blanc beim Baggern und Grapschen zeigt. Britannien, Australien und Brasilien verhängten daraufhin ein Einreiseverbot gegen den Auslandschweizer, in mehreren europäischen Städten wurden Petitionen gegen den 26-Jährigen lanciert, unter anderem auch in Zürich, wo am Wochenende eines seiner Pick-up-Bootcamps stattgefunden haben soll.
Mich irritierten die Schlagzeilen. Einerseits, weil auf besagtem Video tatsächlich dieser Blanc zu sehen war, wie er wildfremde Frauen am Kopf packt und sie an seinen Schritt drückt, weil er auf Twitter tatsächlich Würgefotos mit dem Hashtag #ChockingGirlsAroundTheWorld gepostet hat. Andererseits, weil alle Welt plötzlich so umfassend über Pick-up Bescheid zu wissen schien.
Vor zwei Jahren, als ich für das Ostschweizer Kulturmagazin «Saiten» an einer grossen Reportage über die Zürcher Pick-up-Szene arbeitete, war das definitiv nicht der Fall. Damals wurde ich in der Regel mit riesengrossen Augen angeschaut, wenn ich jemandem erzählte, dass es spezielle Seminare und Bootcamps gibt, in denen Mann lernt, wie Frau am effektivsten verführt wird. Und dass es auch Pick-up Cats, sprich weibliche Pick-up Artists, gibt.
Zugegeben, im ersten Moment dachte ich auch, das Ganze sei nur eine weitere perfide Masche, um irgendwelche Chauvinismen zu zementieren. Dann fragte ich mich, was Männer wohl dazu treibt, sich für teures Geld Tipps zu erkaufen, um es besser mit Frauen zu können. Und schliesslich erinnerte ich mich an all die Flirttipps meiner Kolleginnen und an jene Nächte, in denen ich wohl ein ganz ähnliches Spiel trieb.
Mit schwanzgesteuerten, machoiden Aufreissern hat Pick-up höchstens am Rand zu tun, stellte sich bald heraus. Das Seminar mit einem US-amerikanischen Pick-up-Guru namens Orlando Owen erinnerte mich damals eher an eine gut gelaunte Selbsthilfegruppe. Und anschliessend wurde ich von den Teilnehmern auch nicht gnadenlos abgeschleppt, sondern sass stundenlang an der Bar, philosophierte über das Verhältnis von Mann und Frau, über Beziehungen, fehlende Väter und darüber, wie sich die Gleichstellungsbemühungen auf unsere Gesellschaft auswirken.
Im Grunde waren wir uns damals einig: «Wenn es Pick-up gelänge, dass sich jemand Gedanken über Rollenbilder macht, statt nur etwas vorzugaukeln, wenn jemand seine Verhaltensmuster hinterfragt, wenn das Pick-up-Ding zum Geschlechterdialog beiträgt – dann sei diesem Jemand auch der sexuelle Erfolg gegönnt. Und ausserdem ist es ja nicht so, dass Frauen alles scheisse finden, was nicht mit Haus, Hund und Kind endet.» So weit das Fazit.
Was Julien Blanc betrifft, so konnte ich die öffentliche Empörung der letzten Monate durchaus nachvollziehen. Wobei ihm eine gute Therapie wohl mehr genützt hätte als die Werbewirkung der kollektiven Shitstorms. Dennoch wurde ich den Eindruck nicht los, dass hinter der medialen Entrüstung mehr steckte: jede Menge Vorurteile und Halbwissen. Und eine Spur Doppelmoral. Der Hype um «Fifty Shades of Grey» war dabei weniger ausschlaggebend als die Tatsache, dass Pick-up- und Verführungsworkshops per se von vielen KommentatorInnen als verwerflich bezeichnet wurden. In einem Zeitalter, in dem Emotionen zum Geschäft geworden sind, in dem es Life-Coachs, Onlinepartnerbörsen und Ratgeberliteratur en masse für praktisch alle Lebensbereiche gibt, klingt das schon etwas seltsam …
Die Pick-up-Szene hat schlicht ein paar Facetten mehr. So kam es nicht überraschend, als sich Alex*, einer meiner früheren Interviewpartner, im November meldete und sich von Blanc und seiner umstrittenen Firma Real Social Dynamics (RSD) distanzierte. Blanc sei ein Sonderfall, betonte er. «Er ist aggressiv und überschreitet ganz klar die Grenzen. Seine Philosophie steht unserer diametral gegenüber.»
Mit «uns» ist das Zürcher Lair gemeint, eine Pick-up-Clique mit etwa 200 vorwiegend männlichen Mitgliedern, gut 30 davon sind derzeit aktiv. Der Medienrummel um Julien Blanc sei «reichlich übertrieben», schrieben sie Mitte November auf ihrer Onlineplattform. In der Szene sei er kaum bekannt, ausserdem wolle man ohne Blancs Sichtweise «keine Aussage darüber machen, ob er Schlechtes getan hat oder nicht». «Was wir jedoch klar sagen können, ist, dass wir immer bestrebt sind, dass es den Frauen gut geht und wir sie sehr wertschätzen. Wir lieben Frauen und könnten es uns nie verzeihen, eine Frau zu verletzen.»
Pick-up wurde praktisch über Nacht berühmt, als der Journalist Neil Strauss 2005 den Bestseller «The Game» publizierte, auch hierzulande. In der Szene wird gemunkelt, dass es allein in Deutschland an die 50 000 aktive Pick-upper, darunter auch weibliche, geben soll. Das Zürcher Lair spielt dabei keine unbedeutende Rolle – es soll eine der grössten und aktivsten Communitys in Europa sein.
Ob Blanc wirklich am RSD-Bootcamp in Zürich war, ist unklar. «I’m not even in Switzerland …», postete er letzten Samstag auf Twitter. Wie es der Zufall wollte, organisierte Alex just am gleichen Wochenende ein eigenes Seminar mit dem Zürcher Lair. Eines, das auch für Frauen äusserst interessant sei, wie er versicherte. Der Stargast: Zan Perrion (51), Autor, lebende Legende und Mitbegründer der Pick-up-Community – auch wenn er sich selber lieber als «Romance Artist» bezeichnet. Hans Comyn, mit dem er kürzlich in Bukarest auch ein Hotel eröffnet hat, wurde ebenfalls eingeflogen. Wie Alex vertreten sie die Haltung, dass man mit Authentizität weiter kommt als mit Manipulation. «Frauen fühlen sich nicht von gut aussehenden Männern angezogen, sondern von attraktiven», sagen sie. Ihr Credo: Mann muss sich selber sein, statt seine Energie mit irgendwelchen Tricks zu verschwenden. Dieses «natural game» wird auch von anderen gepflegt und ist wohl einer der fundamentalsten Unterschiede zur Philosophie von Julien Blanc und Konsorten.
Mystik statt Mackertum
Dieses Mal nahm ich meine Freundin Lizzy mit zum Seminar, zwecks Zweitmeinung. Im Zug hatte sie noch gemutmasst, dass uns dort sicher lauter schüchterne, mit Notizblöcken bewaffnete Nerds erwarten. Im Hotel angekommen, konnten wir uns das Lachen nicht ganz verkneifen, als wir tatsächlich ein paar solche ausmachten. Der Grossteil wirkte allerdings ziemlich selbstbewusst und schien so gar nicht auf Flirttipps angewiesen. Aber darum ging es ohnehin nur am Rand. Entsprechend gross war Lizzys Überraschung, als sich Alex im ersten Referat über die eng gefassten Rollenbilder in der Werbung oder über James Bond und ähnlich heldenhafte Stereotype beschwerte – touché. «Das war ja richtig interessant!», befand sie in der Pause. «Krass, was sich die für Gedanken machen, wie ehrlich die über ihre Gefühle reden …»
Zan Perrions Vortrag zielte in dieselbe Richtung. Statt Flirtmaschen servierte er uns jede Menge Anekdoten aus seinem wechselhaften Junggesellenleben, statt Mackertum forderte er Mystik, «female spirit», innere und äussere Freiheit, Lebensfreude, Kreativität, Sinnlichkeit. Einige fanden das etwas gar esoterisch, Lizzy und ich sagten uns: Wurde auch Zeit. Von Hans Comyn waren wir sogar fast etwas berührt. Er hat recht, wenn er sagt, dass wir uns heute zu sehr auf Status und Leistung konzentrieren und dabei verlernt haben, unsere eigenen Wege zu gehen. Es mag pathetisch klingen, wenn er sagt, dass das Leben zu kurz sei, um jemand anders zu sein, aber wir nahmen es ihm ab, sein Plädoyer für Wahrhaftigkeit – oder wie er sagt: «being magnetic».
* Namen geändert.