Russland: Putin und Gott versus Richard Wagner
Sonntagnachmittag, Nowosibirsk: Mehrere Tausend Menschen protestieren vor der Staatsoper. Wladimir Putins Konterfei vor der russischen Trikolore und eine Flut Sankt-Georgs-Bänder sind zu sehen, auch Plakate, auf denen das orthodoxe Christentum als Fundament der russischen Kultur bezeichnet wird. Und wer ist schuld, dass diese ehrenwerten BürgerInnen den Tag des Herrn nicht in angemessener Versenkung verbringen können? Natürlich, der Wagner war es!
Oder genauer gesagt der Leiter des Operntheaters, Boris Mesdritsch, und der junge Regisseur Timofej Kuljabin, deren Inszenierung von Richard Wagners «Tannhäuser» seit Wochen die gläubig-nationalistischen Gemüter erhitzt. In aller Munde ist sie, seit der russisch-orthodoxe Erzbischof von Nowosibirsk im Februar gegen den Regisseur und den Intendanten eine Klage einreichte. Jesus als Filmfigur mit halb nackten Frauen – diese und andere Szenen waren der russischen Staatsmoral zu viel. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Verfahren wegen «mutwilliger öffentlicher Schändung religiöser und liturgischer Literatur und religiöser Kultobjekte» ein. Anders als beim Schauprozess gegen die Mitglieder von Pussy Riot 2012 wurden jedoch prompt Solidaritätsbekundungen laut – auch von bekannten russischen IntendantInnen und RegisseurInnen. Und anders als Pussy Riot wurden Kuljabin und Mesdritsch freigesprochen. Doch damit war für die Sittenwächter nur die Schlacht und nicht der Krieg verloren. Die Staatsanwaltschaft kündigte Revision an, es wurde weitergewettert, und der Erzbischof setzte im Vorfeld alle Gläubigen, die nicht an der sonntäglichen Demonstration teilnehmen würden, mit Judas gleich. Mit Erfolg: Am Sonntag wurde die Entlassung von Boris Mesdritsch bekannt gegeben.
Es ist zu erwarten, dass unter dem selbstgerechten Jubel der Gerechten die Solidarität schnell verstummt und am Ende dieser Farce nur noch eine Frage zu klären bleibt: Wer hat jetzt gewonnen, Putin oder Gott?