Zersiedelungsinitiative: Von wegen «Dichtestress»
Die Jungen Grünen lancieren mit der Zersiedelungsinitiative ein Volksbegehren, das über den Schutz des Kulturlands eine soziale «Bevölkerungspolitik» in Aussicht stellt.
Ende April veröffentlichten zwei Gruppierungen, die das Heu gewiss nicht auf der gleichen Bühne haben, unabhängig voneinander die gleiche Botschaft: dass es in der Schweiz Platz für viele weitere Menschen gibt – ohne Einbussen in der Lebensqualität. Gemäss einer Studie der Immobilienberatung Wüest & Partner könnten in den bestehenden Bauzonen problemlos weitere 2,85 Millionen Menschen wohnen, über eine halbe Million allein im Kanton Zürich.
Während es der Immobilienbranche um wirtschaftliche Interessen geht, liegt den Jungen Grünen der Schutz des Kulturlands am Herzen. Hierfür lancierten sie unlängst die Zersiedelungsinitiative. Was SVP und Ecopop mit Zuwanderungsbegrenzungen er reichen wollten, suchen die Jungen Grünen nun mit einem Einzonungsstopp von weiterem Bauland. Denn der Hauptgrund dafür, dass in der Schweiz täglich eine Landschaftsfläche von acht Fussballfeldern verbaut wird, liegt nicht im zuwanderungsbedingten Bevölkerungswachstum, sondern im Prokopfbedarf an Wohnfläche. Wie stark dieser gestiegen ist, belegt ein Bericht des Bundesamts für Statistik: Zwischen 1985 und 2009 wuchs die Wohnraumfläche um 44 Prozent – bei einer Bevölkerungszunahme von 17 Prozent. Pro Kopf bedeutet das eine Steigerung um 23 Prozent.
Die Senkung des Prokopfverbrauchs durch bauliche Verdichtung muss dabei nicht auf Kosten der Lebensqualität gehen, wie die Jungen Grünen in ihrem Argumentarium darlegen. Im Gegenteil: Wenn Arbeiten, Konsumieren, Wohnen sowie materieller, emotionaler und intellektueller Austausch in ein und demselben Quartier möglich sind und Ressourcen geteilt werden, können auch Energie- und Lebenskosten gesenkt werden. Womit zusätzliche Mittel frei würden, um auch Benachteiligte aktiv daran teilnehmen zu lassen.
Den Teufelskreis aufbrechen
Die Siedlung Sihlbogen im Zürcher Aussenquartier Leimbach ist eine von mehreren Überbauungen aus jüngerer Zeit, die die InitiantInnen als Beispiel für Verdichtung heranziehen. Mit den 220 Wohnungen ist Wohnraum für bis zu 600 Menschen entstanden. Am vergangenen Wochenende wurde das Haus A, der letzte Teil der Siedlung, eingeweiht, nachdem die beiden siebengeschossigen Gebäude des Areals B schon seit einem Jahr bewohnt sind.
Die loggiaartigen Balkone der beiden ersten Blöcke im Sihlbogen präsentieren sich an diesen Samstag geradezu pittoresk. Fast so, als würden die BewohnerInnen an einem Wettbewerb teilnehmen, bei dem der am schönsten eingerichtete Balkon prämiert wird.
Architekt Micha Vogt führt am Einweihungstag durch das Haus A – entlang den grosszügigen Laubengängen, die auf fünf Etagen um einen Innenhof herum angeordnet sind, können wir Einblicke in noch unvermietete Wohnungen und Wohnateliers nehmen. Tatsächlich lassen die verschiedenen Grundrisse der Zweieinhalb- bis Viereinhalbzimmerwohnungen, zweistöckigen Studios und Wohnateliers eine grosse Vielfalt an Wohnformen zu. Man kann sich in diesen Räumen ein älteres pflegebedürftiges Paar ebenso vorstellen wie eine Kunstmalerin oder eine Familie mit drei Kindern.
Vor dem Hauseingang treffen wir auf einen jungen Mann, der uns spontan die Dreieinhalbzimmerwohnung zeigt, in die er vor kurzem mit seiner Freundin eingezogen ist. Begeistert ist er vor allem von der Aussicht: «Sihl, Wald und Himmel!», sagt er und zeigt von weitem auf den malerischen Fensterausschnitt, als handle es sich um ein Gemälde. «Und über die Sihlbrücke und durch den Wald sind wir mit dem Velo in weniger als einer Viertelstunde in der Roten Fabrik.»
Im Areal B haben sich alle MieterInnen verpflichtet, auf die Benutzung von Autos zu verzichten. Die Siedlung ist direkt an den öffentlichen Verkehr angebunden. Die Haltestelle der S4 befindet sich wenige Schritte entfernt. In gut zehn Minuten ist man am Hauptbahnhof. Hier zeigt sich also, wie der Teufelskreis der Zersiedelung aufgebrochen werden kann: Je verdichteter ein Siedlungsgebiet, desto geringer der Autoverkehr – umgekehrt ist ein öffentliches Verkehrsnetz umso lohnenswerter, je dichter ein Gebiet besiedelt ist.
Ob eine Siedlung wie der Sihlbogen oder selbstverwaltete Projekte wie die Kalkbreite im Zürcher Kreis 4: Bei einer Annahme der Zersiedelungsinitiative könnten sich städtebauliche Ideen und Wohnformen, wie sie in der alternativen Szene längst erprobt und von VisionärInnen wie dem Zürcher Autor P. M. schon vor Jahren entwickelt wurden, noch breiter etablieren.
Die Jungen Grünen berufen sich in ihrem Argumentarium denn auch auf Vorstellungen von «nachhaltigen Quartieren», wie sie der Verein Neustart Schweiz entwickelt hat. Die Grundidee solcher Quartiere besteht in urbanen Räumen in der Grösse einer konventionellen Dorfgemeinschaft mit je rund 500 EinwohnerInnen, die «Wohnraum für alle gesellschaftlichen Gruppen und Schichten in verschiedensten Grössen und für unterschiedlichste Bedürfnisse» bieten sollen.
Idealerweise wäre eine solche Siedlung ring- oder U-förmig angeordnet: Ein bepflanzter Innenhof oder Park bringt den Grünraum in die Siedlung. Die Abgrenzung von der Strasse macht den Wohn- und Freiraum ruhig. In den Erdgeschossen gibt es ebenso Platz für eine Quartierbeiz und ein Lebensmittelgeschäft wie für eine Quartierwerkstatt und einen Kindergarten.
In der Siedlung Sihlbogen ist ein Teil dieser Vorstellungen realisiert. Die Dienstleistungen im Parterre des Hauses A sollen der ganzen Bevölkerung in Leimbach zur Verfügung stehen. Hier befinden sich eine Post, ein Supermarkt, ein Bancomat und bald auch ein Kindergarten und Hort, eine Praxis für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie ein Bistro. Ebenso hat sich, per Lift direkt verbunden mit 66 altersgerechten Wohnungen, die Spitex Zürich Sihl einquartiert – inklusive 24-Stunden-Pikettdienst. Am Einweihungstag demonstriert eine Spitex-Mitarbeiterin, wie rasch man von der Spitex in eine der altersgerechten Wohnungen kommt. Im Treppenhaus bleibt sie vor dem Fenster stehen: «Ist das nicht schön?», sagt sie mit Blick auf den Innenhof, «fast wie im Süden.»
Die Mietpreise im Sihlbogen sind für Zürcher Verhältnisse relativ moderat. In den beiden Gebäuden des Areals A bewegen sie sich von 1480 Franken für ein Eineinhalbzimmer-Wohnatelier im Parterre bis zu 2900 Franken für eine Viereinhalbzimmerwohnung im obersten Stock. Entsprechend ist die Zusammensetzung der rund 450 Menschen in den 140 Wohnungen relativ bunt. Doch genügen moderate Mietzinse und funktionale Vielfalt, um dem Anspruch der «sozialen Durchmischung», wie sie die Jungen Grünen proklamieren, gerecht zu werden?
Dieser Tage, wo in der Schweiz kleinherzig darüber diskutiert wird, ob man es sich leisten könne, 3000 Flüchtlinge aufzunehmen, erhält das Papier der Jungen Grünen zusätzliche Bedeutung. Geht man davon aus, dass auf dem heutigen Gebiet der Stadt Zürich 220 000 zusätzliche Menschen wohnen könnten, ohne dass sie und ihre NachbarInnen an Lebensqualität einbüssen müssten, fragt sich: Warum soll es bei angemessener Verdichtung nicht auch genug komfortablen und zahlbaren Wohnraum für sozial Benachteiligte geben, für RentnerInnen, Alleinerziehende, Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen und eben auch für Flüchtlinge?
Der gegenwärtige Mangel an preisgünstigen Wohnungen zeigt: Um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden, muss die Zersiedelungsinitiative um weitere Massnahmen ergänzt werden. Zusätzlich braucht es eine aktive Bodenpolitik, die bezahlbare Wohnflächen bereitstellt, sowie eine entschiedene Förderung von Genossenschaften. Es bräuchte aber auch den Willen der Bauherrschaften, einen Mindestprozentsatz an Wohnungen für sozial weniger gut gestellte Menschen zu gewährleisten.
Ökologisches Zusammenleben
Auf dem Hunziker-Areal in Zürich Leutschenbach hat die Genossenschaft Mehr als Wohnen ein erstes Zeichen gesetzt: Für die rund 1100 Menschen, die in den letzten Monaten eingezogen sind, gelten nicht nur ökologische Prinzipien. Um tatsächlich eine breite soziale Durchmischung zu erreichen, ist ein Fünftel der Wohnungen für Menschen reserviert, die Anspruch auf Unterstützungsgelder haben. Auch die selbstverwaltete Zürcher Genossenschaft Kalkbreite vermietet elf kantonal subventionierte Wohnungen. Wie in der Genossenschaft Mehr als Wohnen gibt zudem ein Solidaritätsfonds Menschen die Möglichkeit, in der Kalkbreite zu wohnen, die sich das sonst nicht leisten könnten. Bezüglich der sozialen Durchmischung orientiert sich die Kalkbreite am Quartier- sowie am landesweiten Schnitt.
Die Zersiedelungsinitiative tangiert im Grunde fast alle Bereiche, die von der Rechten als nicht miteinander vereinbar bezeichnet werden: Ökologie und soziales Zusammenleben schliessen sich eben gerade nicht aus, sondern bedingen sich gegenseitig.
Widerstand der Kantone
Um die bauliche Verdichtung zu forcieren, braucht es eine Offensive auf mehreren Ebenen, zumal der Widerstand gross ist: Anfang Mai gab die Bau-, Planungs- und Umweltdirektorenkonferenz der Kantone ihre Ablehnung zur zweiten Revision des Raumplanungsgesetzes (RPG) bekannt: Die erste Revision würde das Kulturland bereits hinreichend schützen.
Die derzeitige Praxis vieler Kantone beweist das Gegenteil: Mit dem 2014 revidierten Raumplanungsgesetz dürfen Gemeinden zwar nur noch Bauzonen für einen voraussichtlichen Bedarf von fünfzehn Jahren einzonen. Nun aber berufen sich die Kantone meist auf mittlere oder hohe Szenarien des Bevölkerungswachstums, womit die Zersiedelung weiterhin voranschreitet.
Noch fataler am derzeitigen RPG ist die Tatsache, dass es den bisherigen Prokopfverbrauch als Massstab nimmt. Die tiefe Siedlungsdichte in den Agglomerationen wird so zum Standard für die weitere Entwicklung. Auch sagt das Gesetz nichts über soziale, familien- und kinderfreundliche Aspekte der Verdichtung.