Britisches Theater: «Diese Linken sind gerne verzweifelt»

Nr. 27 –

Der Theaterautor Anders Lustgarten flucht lustvoll über das britische Theater: Es spiegle bloss die herrschende Klassengesellschaft wider. Das will er mit explizit politischen Stücken ändern.

Wie sich der Zusammenhang von Armut, Verschuldung, Einwanderung und Rassismus auswirkt: Louise Mai Newberry und Ferdy Roberts in Anders Lustgartens «Lampedusa» am Soho Theatre. Foto: Alastair Muir

Anders Lustgarten hat keine Zeit, entmutigt zu sein. Auch Wochen nach dem Wahlsieg der Konservativen regt er sich noch auf über die Tories, die Labour-Partei, die Royal Family – aber vor allem über die Apathie, die sich derzeit bei vielen Linken breitmacht. «Sie sind gern verzweifelt», sagt er. «Sie mögen die Vorstellung, dass alles im Arsch ist, dass die Tories böse sind und wir einfach hier sitzen und uns darüber aufregen sollen.» Diese Linken seien es auch, die seine Theaterstücke am meisten kritisierten: «Sie hassen den Optimismus, den ich vermittle, die Idee, dass wir tatsächlich etwas tun können.»

Der 38-jährige Lustgarten, der ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift «Just look illegal» trägt, redet schnell, mit Leidenschaft und vielen Fluchwörtern. Der Theaterautor sitzt in einer Tapasbar im sonnigen Brighton, wo er seit einigen Jahren wohnt. Aus London war er weggezogen, nachdem ihm die Gentrifizierung und der allgegenwärtige Kommerz die Metropole verleidet hatten.

Dass er beim Theater gelandet ist, überrascht ihn selbst. Lustgarten studierte zunächst Politik in Kalifornien. Nachdem er seine Doktorarbeit abgeschlossen hatte, unterrichtete er zwei Jahre lang im berüchtigten Todestrakt von San Quentin Prison, nördlich von San Francisco. Nach seiner Rückkehr setzte er die Arbeit in britischen Haftanstalten fort. Als er zusammen mit den Gefängnisinsassen eine erfolgreiche Theaterinszenierung auf die Beine gestellt hatte, begann er vor sechs Jahren, selbst Stücke zu schreiben. Mittlerweile hat er Aufträge vom Royal Court Theatre und vom National Theatre erhalten, 2011 gewann er den Harold Pinter Playwright’s Award.

Von Occupy bis Lampedusa

«Anfänglich sah ich Theater als eine andere Form von Aktivismus, eine andere Art, ein Argument vorzubringen», sagt Lustgarten. Weil für ihn die politische Botschaft stets im Vordergrund stehe, seien seine ersten Stücke etwas didaktisch gewesen. «Mittlerweile habe ich gelernt, meine Meinung so rüberzubringen, dass sie nicht zu offensichtlich wirkt.» Aber noch immer steht am Anfang jedes Stücks ein politischer Sachverhalt, über den er etwas sagen will: Lustgartens Theater handelt etwa von der Occupy-Bewegung, von der rassistischen British National Party, von folternden Geheimdiensten oder von einem türkischen Drohnenangriff auf kurdische ZivilistInnen.

Anders Lustgarten, Regisseur: «Die Kapitalisten wollen nicht nur Macht und Geld, sondern auch noch unsere Sympathie!»

Sein jüngstes Werk, «Lampedusa», das im Juli im Soho Theatre gezeigt wird, ist in diesem Bestreben sein bislang gelungenstes: Ein Fischer, der tote MigrantInnen aus dem Mittelmeer birgt, schildert darin seine Sicht auf die Flüchtlingskrise. Als zweite Protagonistin tritt eine junge Frau aus der nordenglischen Arbeiterklasse auf; sie treibt Kleinkredite von armen Leuten ein und erzählt vom Rassismus, dem sie als asiatischstämmige Frau ausgesetzt ist. Mit den beiden Geschichten, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, zeigt Lustgarten, wie sich kapitalistische Vorgänge – der Zusammenhang von Armut, Verschuldung, Einwanderung und Rassismus – auf einzelne Personen auswirken. «Mich interessiert, was für Folgen makroökonomische Prozesse auf das Verhalten von Menschen haben – inwiefern unser Handeln von grösseren Vorgängen bestimmt wird.»

Aus der Feder britischer AutorInnen ist kapitalismuskritisches Theater dieser Art nicht gerade gebräuchlich. «Fast niemand denkt, was ich denke», sagt Lustgarten selbstbewusst. «Verblüffend viele Stücke handeln von Paaren aus der Mittelschicht, die beispielsweise die Frage erörtern, ob sie angesichts des beschissenen Klimawandels ein Kind haben sollen.» Überhaupt seien die ProtagonistInnen auf britischen Bühnen in überwältigender Zahl VertreterInnen der Mittelklasse. «Über die kulturellen Konsequenzen der Austerität wird viel zu wenig gesprochen. Es gibt eine direkte Parallele zwischen dem, was die Sparpolitik mit den Menschen anstellt, und der Tatsache, dass diese Leute auf der Bühne oder im Fernsehen nicht repräsentiert werden.» So laufen in West End, dem Londoner Theaterbezirk, derzeit drei Stücke über die Royal Family. Lustgarten betont: «Drei!» Eines davon gewann im April einen prestigeträchtigen Olivier Award. Das Stück handelt davon, mit was für Problemen sich ein künftiger König Charles III. herumschlagen müsste – oder in Lustgartens Worten: «Wie furchtbar schwer es ist, König zu sein.»

Die grosse Verbeugung

Es sei haarsträubend, wie sich die britische Kultur derzeit vor dem einen Prozent, dem reichsten Hundertstel der Bevölkerung, verbeuge. «Dass es zu dieser Verbeugung kommt, ist kein Zufall. Der Reichtum wird von der Politik ja als legitimes Recht dargestellt.» Lustgarten sieht das nicht als Verschwörung, sondern als Folge der Wirtschaftsordnung: Das Kapital fliesse dorthin, wo die Nutzniesser des Kapitalismus in gutem Licht dargestellt werden. «Diese Leute wollen alles – nicht nur alle Macht und alles Geld, sondern obendrein auch noch unsere Sympathie. Sie wollen als einfühlsame, anständige Menschen repräsentiert werden.»

Demgegenüber seien auf der Bühne und im Fernsehen immer weniger Charaktere aus ärmeren Gesellschaftsschichten zu sehen, die positiv dargestellt würden. «Diese Leute werden zunehmend als zwielichtig und parasitär beschrieben», meint Lustgarten. Mit dieser Kritik ist er nicht allein: Der Journalist und Buchautor Owen Jones beklagte in einer Vorlesung vor der Royal Television Society vor eineinhalb Jahren, wie selbstverständlich es geworden ist, dass Individuen aus der Arbeiterklasse im britischen Fernsehen verunglimpft und mit hässlichen Stereotypen versehen werden – sie erscheinen als gemeingefährliche Sozialschmarotzer, denen es sowohl an Intelligenz als auch an positiven Gefühlsregungen mangelt. Das sei früher ganz anders gewesen, meint Lustgarten: «In früheren Jahrzehnten gab es viele TV-Sendungen und Theaterstücke, in denen die Arbeiterklasse mit viel Wärme gezeichnet wurde und ihr ein hohes Mass an Handlungsfähigkeit gegeben wurde. Das haben wir heute immer weniger.»

Autonomie gewinnen

Dieses Zerrbild der Gesellschaft wird auch dadurch begünstigt, dass einkommensschwache BritInnen in der Schauspielbranche stark untervertreten sind: Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie der Goldsmith University beträgt die Zahl der SchauspielerInnen aus der «working class» nur zehn Prozent. Das hat vor allem mit der Entlöhnung zu tun: Gagen für SchauspielerInnen sind miserabel (vgl. «EliteschülerInnen vor der Kamera» im Anschluss an diesen Text), und wer keine Unterstützung von reichen Eltern hat, kann die Zeit zwischen einzelnen Engagements kaum überbrücken. Dazu kommt, dass im Zuge der Sparpolitik das Budget sowohl für die höhere Bildung als auch für die Kunstförderung stark gekürzt worden ist und so weniger Geld für die Unterstützung von Talenten aus ärmeren Schichten zur Verfügung steht. Lustgarten selbst versucht, in seinen Produktionen SchauspielerInnen aus nicht privilegierten Schichten zu engagieren.

«Ich glaube tatsächlich, dass das kulturelle und politische Projekt der Konservativen darauf hinausläuft, die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts rückgängig zu machen und jegliche Autonomie und Handlungsmacht zu zerstören, die die Menschen durch Revolutionen gewonnen haben», sagt Lustgarten. «Früher gaben die Jobs – etwa in der Fabrik – den Angestellten eine kollektive Identität und damit eine gewisse Macht. Wenn sie ihre Arbeit einstellten, dann hatte das Konsequenzen.» Mehr als drei Jahrzehnte der Globalisierung und neoliberaler Politik, die unter anderem zur Verbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse führten, hätten den Lohnabhängigen ihre Mitsprache und Autonomie geraubt. «Wenn heute ein Minijobber in einer Bäckereikette streikt, dann bekommt der Kunde sein Brötchen nicht – mehr passiert nicht, er kann damit nichts bewegen.»

Hier setzt sein Gegenprojekt an: Lustgarten sieht sein Theater als eine Möglichkeit, entmachteten Menschen ihre Handlungsfähigkeit zurückzugeben, die sie mit dem fortschreitenden Neoliberalismus verloren haben. Er ist überzeugt, dass seine Stücke einen Unterschied machen – den Vorwurf, das Theater sei als Instrument des politischen Aktivismus ungeeignet, weil er zu Bekehrten predige, hält er für absurd: «Das ist eine bescheuerte und herablassende Theorie, die viele Linke aus irgendeinem Grund geschluckt haben», sagt er entnervt. «Was meine Stücke angeht, so habe ich vornehmlich Zuschauer, die kaum ins Theater gehen. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die nichts über Lampedusa wussten, und als sie mein Stück sahen, waren sie richtig schockiert und betroffen. Das sind zwar nur wenige Leute, aber wenn man hundert Leute pro Abend zum Denken bewegen kann, tut man etwas Konkretes.»

Theaterausbildung: EliteschülerInnen vor der Kamera

Letztes Jahr kam eine Umfrage unter 1800 britischen SchauspielerInnen zum Ergebnis, dass über drei Viertel von ihnen lediglich gut 7300 Franken pro Jahr für ihre Arbeit im Theater oder vor der Kamera verdienen. Nur zwei Prozent erhalten mehr als 29 000 Franken. Ihren Lebensunterhalt müssen die meisten mit einem zweiten oder dritten Job verdienen. Auch die Ausbildung ist teuer: Für einen Bachelor in Schauspielkunst muss man bei der Royal Academy of Dramatic Art – wie auch bei vielen anderen Institutionen – über 13 000 Franken pro Jahr hinblättern.

Angesichts dieser hohen Kosten warnen etliche prominente SchauspielerInnen – unter ihnen Helen Mirren, Brian Cox und Julie Walters –, dass die Schauspielerei zu einem Vorrecht der Reichen zu werden drohe. Tatsächlich finden sich unter den bekanntesten britischen SchauspielerInnen auffallend viele AbsolventInnen vornehmer Privatschulen: Oscar-Gewinner Eddie Redmayne («Die Entdeckung der Unendlichkeit»), Dominic West («The Wire») und Damian Lewis («Homeland») gingen alle nach Eton. Benedict Cumberbatch («Der Hobbit») besuchte Harrow, und Rosamund Pike («Stirb an einem anderen Tag») absolvierte die Mädchenschule Badminton.

Julie Walters («Billy Elliot», «Harry Potter»), die aus einfachen Verhältnissen stammt und dank eines Darlehens ihre Schauspielausbildung absolvieren konnte, sagte im Dezember in einem Interview mit der Tageszeitung «Daily Mirror»: «Bald können nur noch privilegierte Kids Schauspieler werden, deren Eltern sich die Ausbildung leisten können. Das ist nicht recht. Es scheint, als machten wir einen Schritt zurück.»

Peter Stäuber