Griechinnen in der Schweiz: Der Knoten ist zum Kamm gekommen
Zu Besuch bei fünf GriechInnen in Basel, die besorgt auf ihr Heimatland schauen, ihren Landsleuten von hier aus zu helfen versuchen – und auf ein Nein beim anstehenden Referendum hoffen.
Eigentlich wollte ich nur Kostas Karasantes treffen. Wir hatten uns vor drei Jahren kennengelernt (siehe WOZ Nr. 33/12) . Drei Stunden hatte mir der Sohn griechischer Bürgerkriegsflüchtlinge atemlos aus seinem Leben erzählt, von seiner Sorge um Griechenland – wo er nie gelebt hat, das ihm aber dennoch Heimat ist – und seiner Hoffnung auf das Linksbündnis Syriza, während der Kaffee in seiner Tasse immer kälter wurde. Nun, drei Jahre später, steht Griechenland endgültig vor dem Staatsbankrott. Wie geht es dem Drucker aus Allschwil in diesen Tagen? Was ist aus seinen Hoffnungen von damals geworden?
«Natürlich können wir uns treffen», sagt der heute 63-Jährige am Telefon. «Am besten bei meiner Freundin Line.» Kostas lädt uns also zu Line Boser ein. Die wiederum holt ihren Mann Jorgos Makaratzis und ihren Neffen Kleomenis dazu. Und so sitzen wir zu fünft im Wohnzimmer der Familie Boser-Makaratzis im Basler Kannenfeldquartier. Auf dem Salontisch stehen Schälchen mit Tintenfisch in einer würzigen Sauce, Auberginenpaste, gefüllte Weinblätter und Fetakäse. Wir machen Duzis. Die warme Sommerabendluft strömt durch die offene Balkontür und lässt die Eiswürfel im Rakiglas rasch schmelzen. Noch rascher macht das Begrüssungsgeplauder – ein Gemisch aus Hochdeutsch, Griechisch und Baseldeutsch – ernsteren Themen Platz.
Die Schatten der Oligarchie
«Es schüttelt uns durch. Wir kleben am Internet und am Radio», sagt Line Boser. Die 68-jährige Ökonomin und Sprachlehrerin ist als Tochter einer Griechin und eines Schweizers in Basel aufgewachsen. «Wir fühlen uns verloren und stellen uns Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Was geschieht bei einem Nein, was bei einem Ja in der bevorstehenden Referendumsabstimmung?»
Ihr Mann Jorgos Makaratzis nickt. Der Sechzigjährige ist ratlos, wütend und traurig zugleich. Wütend auf die EU und «ihre schwarze Propaganda gegen die Demokratie». Makaratzis kam vor 25 Jahren in die Schweiz. Es ist schwierig für ihn, Arbeit zu finden: «Niemand hat auf einen sechzigjährigen Heizungsmonteur gewartet.» Erst recht nicht in Griechenland, wo er die meiste Zeit des Jahres lebt. Nächste Woche fährt er wieder in seine Heimatgemeinde Acharnes an der Peripherie Athens: «Ich weiss nicht, was ich dort antreffen werde. Das wirtschaftliche System hat ein Versuchstier gefunden. Und das Tier heisst Griechenland. Sie haben das Land auf der menschlichen Ebene zerstört. Menschen suchen dort in Abfällen nach Essen. Das Experiment ist gescheitert, doch die EU kämpft weiter mit Nägeln und Zähnen, um es weiterzuführen.»
Am liebsten sofort zurückreisen würde auch ihr Neffe Kleomenis. «Der Knoten ist zum Kamm gekommen», sagt er auf Griechisch, und seine Tante übersetzt das Sprichwort: Die Krise hat ihren Höhepunkt erreicht. Seit drei Wochen ist der 32-Jährige in Basel und arbeitet für ein Tattoofestival. Drei weitere Wochen wollte er eigentlich bleiben und Geld verdienen, um danach in Thessaloniki wieder eine Weile über die Runden zu kommen. Nun reisst es ihn nach Hause. In Griechenland demonstrieren Tausende Menschen auf der Strasse – und er sitzt hier in Basel auf dem Sofa fest.
«Es ist wichtig, dass wir Widerstand leisten gegen die Austeritätspolitik», sagt Kostas Karasantes. «Seit dem Altertum sind wir ein Volk, das Widerstand leistet.» – «Wir mauleseln», fügt Jorgos hinzu. «Wir lassen uns vor keinen Karren spannen und wissen, wann wir ‹ochi› sagen müssen.» «Ochi» heisst «nein» auf Griechisch. Sein Neffe Kleomenis widerspricht umgehend. Die griechische Gesellschaft im Jahr 2015 habe zu ihrer Geschichte keinen Bezug mehr.
Bis vor vierzig Jahren war das Land von der Landwirtschaft geprägt, die Leute lebten in einfachen Verhältnissen und in starken sozialen Bindungen. «Und dann kam der Ausverkauf der Bankkredite», erinnert sich Jorgos an die achtziger und frühen neunziger Jahre. Bisweilen sei er mehrmals täglich von verschiedenen Banken angerufen worden: «Sie sagten: ‹Herr Makaratzis, bei uns liegt ein Kredit für Sie bereit.› Dabei hatte ich gar nie einen Antrag gestellt.» Die Kredite seien einem nachgeworfen worden, für Ferien, ein neues Auto, eine Hochzeit. Hypotheken habe es bis dahin kaum gegeben. Die Leute hätten ihre Häuser noch selbst besessen.
«Wir lebten in einem täuschenden Wohlstand», ergänzt Kostas Karasantes. «Die Profitgier der Banken hat Griechenland in die derzeitige Situation gebracht. Die Profitgier und die Oligarchie. Eine Handvoll Familien teilt den Wohlstand des Landes unter sich auf und steuert die Geschicke des Landes seit Jahrzehnten. Sie haben uns in diese Katastrophe gesteuert.» Das Geld aus den sogenannten Rettungskrediten floss direkt zu den Banken. «Doch darüber liest man kaum etwas in den Zeitungen. Die Leute in Europa sind völlig falsch informiert», ärgert sich Kostas Karasantes – und meint damit auch die mediale Verunglimpfung einer ganzen Bevölkerung als faul und arbeitsscheu.
«Das ist völlig absurd», meint auch Kleomenis. In Griechenland arbeite er hin und wieder auf dem Bau, zehn bis zwölf Stunden pro Tag, ohne Sicherheitsvorkehrungen. Dabei verdiene er in einem Monat halb so viel wie in zwei Wochen in Basel. In der Schweiz sagten ihm die Leute jeweils, dass er etwas langsamer arbeiten solle. «Wir Griechen arbeiten sehr hart. Und die Immigranten in Griechenland arbeiten noch viel mehr für viel weniger Geld.»
Was von hier aus tun?
Es klingelt an der Tür. Herein kommt Melpo Phanis mit ihrer kleinen Tochter Anna Nicola, die sie soeben von der Kita abgeholt hat. Melpo ist eine von Line Bosers Deutschschülerinnen. Die 35-Jährige lebt seit sechs Jahren in der Schweiz und arbeitet als Chemikerin am Kantonsspital Basel in der Nuklearmedizin. «Am Freitag war ich noch glücklich», sagt sie, während sie sich auf das Sofa und ihre Tochter auf einen kleinen Kinderstuhl setzt. «Und mein Glück hatte nichts mit Griechenland zu tun. Am Samstag war ich deprimiert, und das hatte sehr viel mit Griechenland zu tun. Ich weiss, dass mein Stress hier nicht derselbe ist wie dort – und dann fühle ich mich schuldig.»
In Griechenland werden heute 65 Prozent der Lebensmittel importiert. Line Boser illustriert die wirtschaftliche Situation des Landes mit ihrem letzten Supermarktbesuch: In der Gemüseabteilung hingen zwei Knoblauchzöpfe – «etwas Griechischeres als Knoblauch gibt es nicht». Der eine, kümmerlich und vertrocknet, kam aus Griechenland. Der andere, prall und weiss, aus China. «Doch der Knoblauch aus China schmeckt nach nichts», brummelt Lines Mann Jorgos und schiebt sich ein gefülltes Weinblatt in den Mund. Zurzeit hört man von landwirtschaftlichen Initiativen, Selbstversorgungs- und Genossenschaftsprojekten, in denen sich die Leute gegenseitig unterstützen. «Das ist gut, aber nützt nicht viel, denn die Mehrheit der Griechen wohnt in den Städten», wendet Melpo Phanis ein.
Was also von hier aus tun? Alle am Tisch unterstützen ihre Verwandten finanziell. Kostas versucht, fünf Prozent seines Einkommens nach Griechenland zu schicken, je nachdem, wie gut es mit seiner Einmanndruckerei läuft. Melpo bindet ihre griechischen KollegInnen wann immer möglich in Forschungsprojekte am Kantonsspital ein. «Das ist keine humanitäre Geste. Sie sind alle hervorragend ausgebildete Leute, die es verdient haben, an Forschungsprojekten teilzunehmen.»
Line erzählt von ihrem Cousin, der in Paris als Psychiater für Taubstumme arbeitet. Gemeinsam mit seinen französischen KollegInnen bringt er immer wieder Spitalmaterial nach Griechenland. «Es war ein eindrückliches Erlebnis für alle Beteiligten», erzählt Line. «Ich kenne aber keine solchen Beispiele aus der Schweiz, dabei sind solche Initiativen dringend nötig.»
Kleomenis kennt Leute aus der Basler HausbesetzerInnenszene, die vor zwei Jahren mit einem dreitägigen Solifest 17 000 Franken für die Unterstützung von anarchistischen Gefangenen in Griechenland gesammelt haben. Damit werden ihnen Telefonkarten, Essen und auch AnwältInnen bezahlt. «Die Zustände in griechischen Gefängnissen gleichen jenen in der Dritten Welt», erzählt Kleomenis. «Die Familien der Insassen haben selbst keine Mittel, um sie zu unterstützen, also hilft ihnen ihre politische Familie.» Dank solidarischer Menschen aus ganz Europa werden zurzeit über siebzig Gefangene unterstützt.
Hoffen auf «ochi»
Melpo Phanis’ letzte Hoffnung ist, dass die EU ihre Richtung ändert – «sie hat ein Monster geschaffen anstelle eines Bündnisses von gleichberechtigten Staaten». Auch hofft sie, dass Syriza überlebt, «denn wir können und wollen nicht zurück zum alten, korrupten System». Kleomenis schüttelt skeptisch den Kopf. «Er ist Anarchist», sagt seine Tante Line augenzwinkernd. «Libertärer Kommunist», korrigiert Kleomenis und holt aus: «Syriza will gar keine richtigen sozialen Veränderungen. Sie versprachen ein Grundeinkommen von 800 Euro für alle, die Schliessung von Hochsicherheitsgefängnissen und Flüchtlingscamps. Nichts von alledem haben sie gemacht. Syriza ist nicht radikal genug, sonst hätten sie sich schon längst von der EU verabschiedet. Sie müssen das Geld der Oligarchen umverteilen. Woher sonst soll das Geld kommen?»
«Und doch ist es das erste Mal seit dem Sturz der Militärdiktatur, dass wir nun über so etwas wie wirkliche Demokratie sprechen können», wendet Jorgos ein. «Wie wir wissen, gibt es keinen Gott. Möge er dennoch dafür sorgen, dass die Griechen Nein stimmen.»