Die Neuerfindung
Sonntag, 5. Juli: Im deutlichen Nein der Griechen zum EU-Spardiktat drücken sich Wut und Stolz aus. Aber auch die Neuerfindung der europäischen Linken aus dem Süden. Eine Geschichtslektion an den «Ochi»-Feierlichkeiten.
Noch zeichnet sich nichts von der Sensation ab, am späten Nachmittag im Wahllokal des Athener Universitätsviertels Zografos. Ruhig gehen die Stimmberechtigten ein und aus, von modisch gekleideten Studentinnen bis zu müde wirkenden Kranken an Krücken. Viele haben sich einen Kleber mit einem «Nai» an die Brust geheftet, ebenso viele einen mit einem «Ochi». In einer Wahlkabine kreuzen sie ihr Ja oder Nein an hinter der ellenlange Frage: «Muss der gemeinsame Plan von EZB, EU-Kommission und IWF, der am 26. Mai 2015 in der Eurogruppe eingebracht wurde und aus zwei Teilen besteht, angenommen werden? Diese zwei Teile sind …»
Auch im Pressezentrum im ehemaligen Königspalast, wo mehr als hundert JournalistInnen aus aller Welt ihre Laptops aufgeklappt haben, wird ein knapper Ausgang erwartet. Nach Schliessung der Wahlurnen um 19 Uhr werden die ersten Exit Polls veröffentlicht: 46 Prozent Ja-Stimmen gegen 49 Prozent Nein – ein leichter Vorsprung für das «Ochi»! Er wächst sich in den nächsten Stunden zu einem Triumph für Ministerpräsident Alexis Tsipras aus: 61 Prozent Nein zu 39 Prozent Ja werden es sein, nachdem alle Stimmen ausgezählt sind, bei einer Stimmbeteiligung von mehr als 60 Prozent. Im Pressezentrum weiss niemand, ob Tsipras hier vorbeikommt. Ein deutscher Kollege meint: «Das ist ein Populist, der spricht zuerst zu seinen Leuten.» Und bringt damit die ganze Arroganz, in der in vielen Medien über die griechische Regierung berichtet wurde, noch einmal zum Ausdruck. Wenn der Ministerpräsident nicht kommt – dann spricht man wohl am besten mit seinen Leuten.
Von Genua nach Athen
«Ochi, ochi, ochi!», hallt es noch einmal durch die Untergrundstation am Syntagmaplatz. Die Menschen, die sich auf den Rolltreppen begegnen, winken sich zu. Tausende strömen zum Feiern auf den Platz, die Ernsthaftigkeit der Abschlusskundgebung vom Freitag ist einer Lockerheit gewichen. Unter den Feiernden, bei den Syriza-Fahnen, steht Thanos Lykonzgias. «Ich bin einer von ihnen», beschreibt er sich selbst: Mitglied von Syriza seit der ersten Stunde, heute Vizesekretär in seinem Athener Stadtteil. Mitten im Lärm von Parolen und Vuvuzela-Getröte holt er zu einer Geschichtslektion in Sachen Syriza aus.
«Die Anfänge liegen in den Antiglobalisierungsprotesten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 und in den Demonstrationen gegen den Irakkrieg.» Dann habe die Sparpolitik der EU begonnen. Aus den Kämpfen auf der Strasse sei Syriza gewachsen, die Koalition der radikalen Linken. Bis 2012 erzielte das Wahlbündnis nur wenige Prozent der Stimmen, dann gelang der Durchbruch: Syriza wurde zweitstärkste Kraft im Parlament, bei den Wahlen im Januar dann die stärkste. «Eine Regierung der Linken», wie Lykonzgias sie nennt, wurde möglich.
Die Geschichte macht deutlich: Alexis Tsipras, der seit den Anfangstagen bei Syriza aktiv ist, blieb vorletzte Woche gar nichts anderes übrig, als zum Referendum zu greifen. Hätte Tsipras das Sparprogramm der Troika von Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds angenommen, so hätte er die Ansprüche seiner Partei geopfert. Er stand also vor der Wahl, sich der Partei entgegenzustellen oder die Bevölkerung für seine Unterstützung zu gewinnen. Beides hätte Syriza die Macht kosten können. Alle, die die Unberechenbarkeit oder die Starrköpfigkeit der griechischen Regierung kritisieren, haben bis heute den entscheidenden Punkt nicht begriffen: In Griechenland ist eine soziale Bewegung an der Macht.
Dass der Kurs von Syriza nun von einer so grossen Mehrheit unterstützt wird, hat Mitglied Lykonzgias nicht erwartet: «Am Morgen dachte ich, nur schon eine Nein-Stimme mehr wäre ein grosser Erfolg.» Nun sei er überwältigt, dass die GriechInnen standhaft und stolz geblieben seien. «Sie haben sich von den Bankenschliessungen und dem Medienterror nicht beeindrucken lassen.» Lykonzgias hofft, dass Syriza in ganz Europa zur Inspiration wird. Und wenn er den Stolz betone, so meine er das nicht nationalistisch, sondern internationalistisch. Die Betroffenen der Sparpolitik müssten sich über die Grenzen hinweg gegen den Status quo wehren: «Heute beginnt eine neue Ära.»
Noch gar nicht regiert
Aus der Ferne ist zu sehen, wie um einen kitschig beleuchteten Brunnen auch die RechtspopulistInnen im Kreis tanzen, darunter die Unabhängigen Griechen von Anel. Ist es nicht ein gefährlicher Widerspruch, dass Syriza im Januar mit ihnen paktierte, um eine Regierung bilden zu können? Über diesen Entscheid seien die Meinungen an der Basis geteilt, führt Syriza-Mitglied Lykonzgias aus. «Einige hielten eine Mehrheit notwendig, andere wie ich hätten auch in der Minderheit eine Regierung versucht.» Dass man den RechtspopulistInnen aber in den entscheidenden Punkten die Stirn biete, zeige der Vorschlag über das neue Bürgerrechtsgesetz: Künftig sollen alle in Griechenland geborenen Kinder das Bürgerrecht erhalten. Anel wehrt sich im Parlament dagegen, Syriza setzt auf die Unterstützung der moderaten linken Parteien. Wegen der Troika-Verhandlungen ist die Gesetzesberatung vorerst aufgeschoben.
Ob Syriza-Mitglied Thanos Lykonzgias oder Giorgos Vichas, der Gründer der Sozialklinik in Hellenikon, oder Muhammadi Yonous vom griechischen Flüchtlingsforum: Viele Leute, mit denen ich in den letzten Tagen sprach, haben darauf hingewiesen, dass Syriza eine linke Regierung ist, die noch gar nicht zum linken Regieren kam. Noch kann sie sich auf die Troika-Verhandlungen berufen, doch viele ihrer UnterstützterInnen wollen Taten sehen und nicht nur Ankündigungen auf dem Papier, in der Arbeits-, der Gesundheits-, der Migrationspolitik. Und in der Krise sind solche Taten dringend.
Vorerst dreht sich aber alles weiter um die Verhandlungen mit der Troika über die griechischen Staatsschulden in der Höhe von 300 Milliarden Euro. Gegen Mitternacht meldet sich Tsipras doch noch in einer Fernsehansprache zu Wort. Er fordert, dass wie vom IWF vorgeschlagen, endlich die Diskussion über einen Schuldenschnitt auf den Tisch gehöre. Ob mit den Gläubigern tatsächlich eine Einigung erzielt werden kann und was sie vor allem für die betroffenen GriechInnen bedeutet, ob Syriza eine Bewegung bleibt oder sich letztlich doch beim Establishment anbiedert, all das steht derzeit offen. Tsipras bedankt sich in seiner Rede auf alle Fälle nicht nur bei den Griechinnen für die Unterstützung im Referendum, sondern «auch bei allen UnionsbürgerInnen, die in den Städten Europas aus Solidarität mit Griechenland auf die Strasse gegangen sind». Es klingt durchaus internationalistisch.
Mit diesem Beitrag schliesst der Blog «Heisse Tage in Athen». Mehr zu lesen über Griechenland gibt es in der WOZ-Printausgabe vom Donnerstag, 9. Juli 2015.