Filmfestival Locarno: Im Wilden Westen der Seele

Nr. 32 –

Am Werk von Sam Peckinpah lässt sich bis heute die filmische Darstellung von Gewalt diskutieren. Am Filmfestival von Locarno wird dem US-Regisseur eine Retrospektive gewidmet.

«Da habt ihr euer Meisterwerk»: Warren Oates in Sam Peckinpahs «Bring Me the Head of Alfredo Garcia» (mit Alfredo Garcias Kopf im Sack). Still: Optimus Films

Zu Lebzeiten wurde er wegen der Gewalt in seinen Filmen heftig attackiert und zensuriert. Heute liegt Sam Peckinpah (1925–1984) begraben unter zahlreichen Legenden, Lobeshymnen und NachahmerInnen. Der sagenhafte Regisseur und Drehbuchautor war ein grosser Säufer, Choleriker und Schrecken aller Studiobosse; ein Besessener und Ruheloser, ein treuer Freund und untreuer Macho, der sich hinter verspiegelten Sonnenbrillen versteckte. Als er mit 59 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts starb, war er nur noch ein «Wrack, umringt von Ja-Sagern», wie ihn die langjährige Freundin Senta Berger beschrieb. Er selber nannte sich gegen Ende zynisch «eine gute Hure – ich gehe, wohin man mich tritt».

Traurige Belege dafür sind vor allem Peckinpahs allerletzte Werke, darunter zwei grässliche Musikclips für Julian Lennon, die er wohl hauptsächlich des Geldes wegen gedreht hatte. Dabei waren ihm doch eigentlich die Filme das Wichtigste in seinem Leben. «Vergesst das Biografische», sagte er einmal, «alles, was es über mich zu wissen gibt, ist da oben auf der Leinwand zu sehen.» Umso mehr muss es ihn geschmerzt und umgetrieben haben, dass man ihn diese Filme kaum je so drehen und schneiden liess, wie er es wollte. Und dass er in Interviews stets zu den immer gleichen Fragen Auskunft geben musste: «Warum sind Ihre Filme so gewalttätig?» – «Sind diese unverblümten Gewaltdarstellungen nicht gefährlich, weil sie Nachahmer auf den Plan rufen könnten?» – «Warum halten Sie sich nie an die Regeln?»

Grausame Gegenwart

Auch wenn Peckinpahs Filme heute nicht mehr so brutal wirken wie damals, kommt man um die Gewaltfrage kaum herum – nicht zuletzt, weil sich FilmemacherInnen bis heute mit solchen Vorwürfen herumschlagen müssen. Da ist es sinnvoll, sie erst einmal historisch anzugehen. Peckinpahs erste Werke waren Western – aber keine althergebrachten, heroisch überzeichneten Cowboys-gegen-Indianer-Filme, sondern Western einer neuen Generation, in denen sich der endgültige Niedergang der dargestellten Westernwelt mit den Brandherden der Gegenwart auf heillose und kluge Art verspiegelte. Peckinpah selber sagte, dass ihn das Genre vor allem deshalb interessiere, weil es einen universellen Rahmen biete, innerhalb dessen man die Gegenwart kommentieren könne. Und diese Gegenwart war bekanntlich alles andere als friedlich.

1969, als sein berühmtester Western, «The Wild Bunch», in die Kinos kam, war auch das Jahr, als die Weltöffentlichkeit dank der Hartnäckigkeit von ReporterInnen und AugenzeugInnen von dem im Jahr davor verübten Massaker von My Lai erfuhr, bei dem US-Truppen die BewohnerInnen eines vietnamesischen Dorfs bestialisch ermordet hatten: Männer, Frauen und Kinder. Die Amerikaner waren nun auch offiziell nicht mehr die Guten, sondern entpuppten sich als genauso grausam, wie es die Propaganda den als «barbarisch» verunglimpften Feinden unterstellte – im Vietnamkrieg wie im Western. So zeigt auch «The Wild Bunch» eine Welt fast ohne symbolische Halterung: Gesetzlose Banden bekämpfen sich, begleichen alte Schulden, jagen Kopfgelder oder veranstalten Überfälle mit hohem Blutzoll, um etwas Geld zu verdienen.

Eingerahmt ist der Film von zwei epischen Schiessereien, in denen das Blut nur so spritzt, die Erschossenen reihenweise wie in einem Ballett der Gewalt zu Boden taumeln, und Frauen und Kinder rücksichtslos als Schutzschilde missbraucht werden – eine brutale und kritische Allegorie auf eine verrohte US-Politik. Zerfetzte Leichen liegen unter der sengenden Sonne im Staub, tote Kampfgefährten werden nicht mehr richtig begraben, alte Werte gelten nichts mehr, und der Dreck hat sich so tief in die braun gegerbten Gesichter gefressen, dass kein Wasser diese abgehalfterten Kämpfer richtig säubern kann. Die Ablösung einer alten, mit (durchaus zweifelhaften) Ehrbegriffen codierten Gesellschaft durch eine neue, nach kapitalistischen Regeln strukturierte Geschäftswelt ist in Blut gebadet.

Der Hausherr wird zum Mob

Doch Peckinpah trieb seine Dekonstruktion der grossen uramerikanischen Mythologie des Western noch weiter. Zwei Jahre nach «The Wild Bunch» benutzte er sie als blosse Folie für seinen wohl umstrittensten Film, «Straw Dogs» (1971), der im englischen Cornwall spielt. Das Pub und die gewaltbereiten Säufer, die dort herumhängen, erinnern unweigerlich an einen Westernsaloon. Als ein US-Mathematiker sich mit seiner Frau, die dort aufgewachsen ist, in dem Dorf niederlässt, entwickelt sich ein Psychokrieg, der in einer schier unerträglichen Vergewaltigung und einem beispiellosen Gemetzel explodiert. Quasi über Nacht wird der tollpatschig und zerstreut agierende Wissenschaftler (Dustin Hoffman) zur Killermaschine, die ihre ganze konzentrierte Intelligenz zum Töten einsetzt. Denn die diabolische Logik lautet: Um sich selbst, seine Frau (Susan George), sein Heim und einen armen verfolgten Irren, den die beiden in ihr Haus gerettet haben, vor dem Mob draussen zu schützen, muss der Hausherr selber zum Mob werden. Und wiederum ist kein Gesetzesvertreter mehr da, der das eskalierende Recht des Stärkeren stoppen könnte.

Ob Texas oder Cornwall: Eigentlich ging es Peckinpah nie um konkrete Orte, sondern um den Wilden Westen in unseren Seelen, das nie ganz zu zähmende Tier im Menschen, die dünne Haut der Zivilisation, hinter der jederzeit das Chaos ausbrechen kann. Dies führte er mit drastischen Gewaltdarstellungen vor – nie um ihrer selbst willen, wie er stets beteuerte, sondern weil gewaltsames Leiden und Sterben nun mal keine sanften Vorgänge seien und deshalb ungeschönt gezeigt werden müssten. Gleichzeitig betonte er, dass nicht die fiktionale Gewalt seiner Filme gefährlich sei, sondern die reale Brutalität und wie diese in den TV-Nachrichten dargestellt werde: «Gegen die News bin ich doch chancenlos», beschied er 1976 einem besonders penetrant nachfragenden BBC-Interviewer lakonisch, während er sich aus einer mitgebrachten Flasche vor laufender Kamera reichlich Whisky in den bereitgestellten Kaffee schüttete.

Wie heuchlerisch die auffallend hitzig vorgetragenen Gewaltvorwürfe letztlich waren, zeigte sich auch daran, dass Peckinpahs friedliche Filme kaum geschätzt wurden. So wie «Junior Bonner» (1972) mit Steve McQueen als angeschlagenem Rodeoreiter oder die aberwitzige und doch rührende Liebesgeschichte «The Ballad of Cable Hogue» (1970), in der ein Habenichts wie durch ein Wunder mitten in der Wüste auf eine Quelle stösst. Er macht aus dem Wasserloch ein kleines Geschäft und wird mit seiner geliebten Hildy fast glücklich. «The Ballad of Cable Hogue» fand weder bei der Kritik noch an der Kasse Gnade, blieb aber einer von Peckinpahs erklärten Lieblingsfilmen. In den Hauptrollen wirken Peckinpahs Schauspielerfreund Jason Robards und die kratzbürstige Stella Stevens ausgesprochen gut gelaunt.

Die letzte Kugel

Überhaupt haben ihm viele SchauspielerInnen standhaft die Treue gehalten, obwohl er sie auf dem Set oft drangsalierte. Dagegen beklagte sich Peckinpah immer bitterer über die Hollywoodbosse, die mehrere seiner Filme bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten, zensurierten und falsch vermarkteten. Der einzige Film, bei dem Peckinpah die Kontrolle über die Endfassung hatte, war «Bring Me the Head of Alfredo Garcia» (1974), ein sperriges Ungetüm mit einer absurden und trotzdem packenden Geschichte. Ein mexikanischer Patriarch fordert darin den Kopf von Alfredo Garcia, weil dieser seine jugendliche Tochter geschwängert haben soll. Über Umwege wird schliesslich der versoffene Barpianist Bennie (Warren Oates) angeheuert, der sich mit seiner Freundin (Isela Vega) aufmacht, diesen Alfredo Garcia aufzuspüren.

Und als der Kopfjäger Bennie später den abgehackten Kopf von Alfredo Garcia durch die Wüste karrt und diesen ab und zu fast liebevoll mit Eis kühlt, wird man den Verdacht nicht los, dass Peckinpah mit diesem verwesenden, von Fliegen umschwärmten Kopf immer auch seinen eigenen Film meint. Vor allem, wenn Bennie den Kopf dann einem der vielen Mittelsmänner in den Schoss schleudert, einem Anzugsträger, der in seinem geschniegelten Büro einem Studioboss zum Verwechseln ähnlich sieht. «Da habt ihr das Meisterwerk», scheint Peckinpah zu sagen, «und zwar genau so, wie ich es haben wollte, in seiner ganzen stinkenden, dreckigen Unerträglichkeit».

Auch dieser Film endet in einer Gewaltorgie. Eine Zuflucht oder gar ein Happy End für die paar verlorenen Überlebenden ist nicht in Sicht – alle Fundamente, die moralischen wie die konkreten, sind niedergerissen. In der finalen Einstellung von «Bring Me the Head of Alfredo Garcia» lässt Peckinpah auch uns Zuschauende in einen Gewehrlauf starren. Darin wartet als letzte Kugel die vielleicht unbequemste Wahrheit, die Peckinpah nur zu gut kannte und in allen seinen Filmen auf die eine oder andere Art durchspielte: Wir wissen doch gar nicht, wie wir den Frieden aushalten könnten. Deshalb herrscht immer irgendwie Krieg. Um uns. Oder in uns.

68. Filmfestival Locarno : Kein Dach über dem Kopf

Es gehört gewiss nicht zu den dankbarsten Aufgaben eines Festivaldirektors, jedes Jahr wieder von neuem eine passende Metapher zu finden, unter der sich sein Programm irgendwie begrifflich bündeln liesse. Aber es war dann doch etwas vermessen, dass Carlo Chatrian das Filmfestival von Locarno diesmal zum «Haus des Kinos» erklärte. Ausgerechnet! Wo doch der Prunksaal des Festivals, die Piazza Grande, erfahrungsgemäss davon lebt, dass man hier gerade kein Dach über dem Kopf hat, mit allen meteorologischen Risiken, die das so mit sich bringt.

Aber gegen klimatische Unwägbarkeiten ist man im Kino ohnehin nicht gefeit, auch im zuverlässig überdachten Wettbewerb nicht: Dort zieht in dem Schweizer Episodenfilm «Heimatland» eine dunkle Wolke auf, die unsere sauber eingehegte Insel im Herzen Europas in Panik versetzt. Zu den bekannteren Namen im Wettbewerb mit neunzehn Filmen zählen die Griechin Athina Rachel Tsangari und der Koreaner Hong Sang-soo, der hier vor zwei Jahren schon als bester Regisseur ausgezeichnet wurde. Am oberen Ende der Altersskala gehen auch zwei ungleiche Veteranen ins Rennen um den Goldenen Leoparden: Der gebürtige Pole Andrzej Zulawski (74), Regisseur des Kultfilms «Possession», zeigt seinen ersten Film seit fünfzehn Jahren, und der Georgier Otar Iosseliani (81), vor zwei Jahren bereits für sein Lebenswerk geehrt, kehrt mit «Chant d’Hiver» nach Locarno zurück.

Auf der Piazza Grande werden dann wieder reihenweise Preise an mehr oder weniger schillernde Ehrengäste verteilt – darunter Ehrenleoparden für Michael Cimino («The Deer Hunter») und Marco Bellocchio («Vincere»). Der Westschweizer Lionel Baier wiederum entwickelt sich hier allmählich zum Stammgast: Zwei Jahre nach der Revolutionskomödie «Les Grandes Ondes» hat er es mit seinem neuen Film «La Vanité» schon wieder ins Piazza-Programm geschafft.

Florian Keller

Bis 15. August 2015. Genaues Programm und Informationen: www.pardo.ch.